„Ein Fest für Leipzig”

„Grosses Concert“ auf dem Augustusplatz als Höhepunkt der Amtseinführung Riccardo Chaillys als 19. Gewandhauskapellmeister

„Endlich September“, das mögen zahlreiche Leipziger Musikfreunde, aber auch die Verantwortlichen aus Politik und Kultur am letzten Wochenende gedacht haben: Nach gut dreieinhalb Jahren des bangen Wartens hat Riccardo Chailly mit drei Konzerten nun seinen offiziellen Einstand als 19. Gewandhauskapellmeister gegeben – allen Unkenrufen und in letzter Zeit auch Spekulationen des überregionalen Feuilletons zum Trotz, er werde das Leipziger Amt zugunsten der Muti-Nachfolge an der Mailänder Scala nicht antreten. Auch wenn bereits im Vorfeld an jeder Straßenecke Plakate von der Ankunft des Maestros in Leipzig kündeten, wollte es so manch einer wohl erst nach eigener Augen- und Ohrenzeugenschaft glauben. Entsprechend groß ist das Interesse des Publikums an den ersten von Riccardo Chailly als Gewandhauskapellmeister dirigierten Konzerten: Wer für die Einführungsveranstaltungen am Freitag oder Sonnabend keine Karte mehr bekommen hat, konnte auf dem Augustusplatz mittels Live-Übertragung dem Geschehen im großen Gewandhaussaal zumindest indirekt beiwohnen. Die eigentliche Einführung allerdings – so scheint es zumindest – ist für viele Leipziger das Freiluftkonzert am Sonntag Abend auf dem Augustusplatz, sodass bereits eine gute Stunde vor Konzertbeginn die kostenlosen Stehplätze hinter dem Sitzplatzbereich heiß umkämpft sind und sich letztendlich mehrere tausend Konzertbesucher einfinden.

Ungewöhnlich ist in diesem Jahr der Veranstaltungsort: Während das „Grosse Concert“ als Höhepunkt des Gewandhaustages schon die letzten beiden Male wegen des Zoojubiläums beziehungsweise der Tunnelbaustelle auf der Rosentalwiese stattgefunden hat, so scheint die vor dem Opernhaus errichtete Bühne durchaus programmatischen Charakter zu haben, denn erstmals seit 1968 bekleidet ein Gewandhauskapellmeister auch den schon allzu lange verwaisten Posten des Generalmusikdirektors der Leipziger Oper. Mit Chaillys Amtsantritt verbinden sich hier also große Hoffnungen und so könnte man fast glauben, die Stirnfassade des Leipziger Opernhauses sei nicht nur zwecks Sanierung verhüllt, sondern symbolisiere gleichfalls eine Art Schwellenzustand, aus dem sich die Leipziger Oper gleich dem „Phönix aus der Asche“ in den Olymp des Musiktheaters aufschwingen werde. Folglich setzt sich das diesjährige Programm nicht aus sinfonischen Werken, sondern einzig aus Ouvertüren und Arien Verdis und Wagners zusammen, wofür mit Waltraud Meier und Joseph Calleja namhafte Solisten verpflichtet worden sind. Und nicht zuletzt signalisiert der Maestro selbst, indem er in seiner charmanten Begrüßung bekundet, sich auf dem Augustusplatz zwischen Oper und Gewandhaus sehr wohl zu fühlen, dass sein Engagement in den nächsten Jahren beiden Musentempeln gelten soll. Das Fernziel für die Leipziger Oper ist also ein Aufstieg in die erste Liga, was ihr aber in letzter Zeit nicht durch das sich weitestgehend gut bis hervorragend entwickelnde junge Ensemble, sondern eher durch eine allzu populäre Spielplangestaltung und größtenteils wenig aufsehenserregende Inszenierungen verwehrt worden ist.

Chaillys Strategie lautet, die Gesangstars von morgen schon heute zu engagieren. Dass er hierfür ein Gespür hat, beweisen zahlreiche seiner Entdeckungen, als deren jüngste der maltesische Tenor Joseph Calleja mit Arien Verdis, die er allesamt unter Chailly auf einem Sampler eingespielt hat, eine Talentprobe gibt. Bereits die ersten Töne der Arie des Macduff „O figli, o figli miei“ aus Verdis „Macbeth“ rufen im Publikum ein erstauntes Raunen hervor: Ohne Zweifel, Callejas klangschöner Tenor verfügt über Strahlkraft und ein warmes Timbre, ist aber im Forte noch ausbaufähig. Ein ähnlicher Eindruck entsteht in Alfredos Rezitativ und Arie „Lunge da lei“ aus „La Traviata“, die er zwar mit lyrischem Schmelz gestaltet, deren Spitzentöne er gelegentlich aber zu sehr stemmt. Diese kleinen technischen Unzulänglichkeiten lässt Calleja jedoch mit zwei Arien des Herzogs aus „Rigoletto“ vergessen, die sowohl dem Klang seiner Stimme als auch seiner technischen Gestaltung ideal entgegenkommen: In „Parmi veder le lagrime“ präsentiert er einen differenzierten Wechsel der Affekte und verschmilzt mit dem Spiel des Gewandhausorchester. Dass der zuvor etwas kühle Applaus des Leipziger Publikums unmittelbar nach Verklingen von „La donna ? mobile“ in stürmischen Jubel wächst, ist vermutlich sowohl Joseph Callejas Tenor als auch dem Bekanntheitsgrad dieser Arie geschuldet, der sich im hohen Mitsummfaktor äußert.
Trotz dieser Klangschönheit erweist sich allerdings gerade in den rahmenbildenden Ouvertüren der ersten Konzerthälfte die schlechte Tonaussteuerung als wahres Manko. Dass auf den Stehplätzen statt des originalen Orchesterklanges nur noch dessen akustische Verstärkung zu vernehmen ist, verwundert bei einem Openairkonzert nicht. Wohl aber, dass bei einem Klangkörper, der unter seinem vorherigen Chefdirigenten zu einem Höchstmaß an Transparenz erzogen worden ist und dem präzisen Dirigat seines jetzigen Kapellmeisters unmittelbar Folge leistet, die einzelnen Stimmgruppen nicht zu vernehmen sind. Ärgerlich ist dies zumal, da abgesehen vom sehr populären, wenn auch traumhaft von den Streichern dargebotenen Vorspiel zu „La Traviata“ mit den Ouvertüren zur „Sizilianischen Vesper“ und zu „Luisa Miller“, in der sich Holzbläser und Streicher auf höchstem Niveau die Bälle zu spielen, echte musikalische Entdeckungen aufwarteten.

Den akustischen Bedingungen dieses Konzertes sind die Kompositionen Richard Wagners angemessener, dessen einst im Leipziger Gewandhaus uraufgeführte „Meistersinger“-Ouvertüre den gesamten Augustusplatz dynamisch ausfüllt. Mit bestens disponierten Blechbläsern gelingt es Chailly hier, seinem Orchester trotz der musikalischen Gewalt der Motive in den einzelnen Stimmgruppen einen durchsichtigen Klang zu entfalten, der nur im Finale aufgrund der genannten technischen Probleme etwas verwaschen klingt.
Für diesen zweiten Konzertteil konnte mit Waltraud Meier eine der weltweit führenden Wagnersängerinnen des dramatischen Fachs gewonnen werden. Obwohl ihre Venus im „Tannhäuser“ legendär ist, stellt sie sich dem Leipziger Publikum mit der Auftrittsarie der Elisabeth „Dich, teure Halle, grüß‘ ich wieder“ vor. Das äußerst transparente Orchestervorspiel, in dem vor allem die präzise pochenden Hörner und die Holzbläser auf dem Fundament der Streicher brillieren, erregt die höchste Freude auf ein bevorstehendes Sängerfest. Mag sein, dass die Meier selbst in Gedanken zu sehr bei der Venus gewesen ist und ihr deshalb die ersten Takte ein wenig zu scharf geraten, was sie aber sogleich durch ihre wunderbare Mittellage in den langsameren Stellen und ein perfektes Harmonieren mit dem Orchester wettmacht. Ihren großen Auftritt hat sie allerdings nach der Ouvertüre des „Rienzi“, in welcher Chailly und seinem Orchester trotz vereinzelter Blechwackler ein behutsamer, ganz und gar unplakativer Spannungsaufbau gelingt: In Brünnildes gut zwanzigminütigem „Götterdämmerungs“-Schlussgesang „Starke Scheite schichtet mir dort“ verleiht Waltraud Meier der heroisch-entschlossen dem Untergang entgegenblickenden Walküre mit edlem, metallischen Timbre stimmlich eine derartige Präsenz, dass es zur wahren Wonne gerät, sie über Siegfrieds Treuebruch und den bevorstehenden Untergang Walhalls singen zu hören. Zur Seite steht ihr hier das kongeniale Gewandhausorchester, welches die wichtigsten Leitmotive noch einmal aufblitzen lässt, während Brünnhilde den Nibelungenring an die Rheintöchter zurückgibt und auf ihrem Ross Grane ins Feuer reitend dem Geliebten Siegfried in den Tod folgt.

Im langanhaltenden Schlussapplaus für Solistin, Dirigent und Orchester klingt vermutlich auch der Wunsch mit, in Wagners Geburtsstadt seine Werke wieder regelmäßig erleben zu können. Die letzte Wagner-Premiere an der Leipziger Oper liegt neun Spielzeiten zurück, immerhin ist in dieser Spielzeit nach längerer Abstinenz die langersehnte Premiere des „Parsifal“ und die Wiederaufnahme des „Tristan“ angesetzt. „Das Rheingold“ aber zu heben und daraus einen musikalisch und szenisch überzeugenden Ring zu schmieden, ist die große Hoffnung, die sich mit dem Namen Riccardo Chailly verbindet. Nicht nur in diesem Sinne: Willkommen in Leipzig, Maestro Chailly.

Ein Fest für Leipzig

4. September 2005

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