„Wunschenergie und logische Erklärung”

Ein Interview mit Regisseur Christian Petzold über seinem neuen Film „Gespenster”

Christian Petzold (Bilder: Piffl Medien)

Wie im Traum, in dem sich seltsame Fäden zusammenspinnen, begegnen sich die Gestalten in Christian Petzolds neuem Film Gespenster. Eine Mutter sucht ihr verschollenes Kind und trifft auf zwei Mädchen, die Freundinnen werden für einen Tag. Petzold, berühmt durch seinen Film Die innere Sicherheit, hat mit Gespenster ein filmisches Großstadtmärchen mit ungeheurer atmosphärischer Dichte und verführerischer Rätselhaftigkeit entworfen. Das Interview entstand im Rahmen der 5. Filmkunstmesse Leipzig.

Jörn Seidel, Leipzig-Almanach: Nach der öffentlichen Vorführung auf der Filmkunstmesse standen Sie dem Publikum Rede und Antwort. Dabei kamen Sie auf einen Kalauer zu sprechen, der von Ihrem Freund und Kollegen Harun Farocki stammt. Könnten Sie diesen noch einmal erzählen?

Christian Petzold: Der Kalauer bezieht sich darauf, dass man einen Film, für den man gerade ein Drehbuch schreibt, doch vielleicht näher erklären möchte. Und diese Erklärungen setzt man dann meistens in die Dialoge. Es gibt da eine ganze Menge erklärender Dialoge. Man versucht einfach dasjenige, was außerhalb des Films stattfindet, in den Dialog hineinzubringen. In solchen Momenten muss Harun dann aufstöhnen und erzählt immer so einen Kalauer: Da treffen sich zwei vor der Filmkamera. Sagt der eine: „Du bist ja so bleich.“ „Ja, ich war ja auch 15 Jahre im Gefängnis.“ „Ah ja, stimmt, Du hast doch damals mit dem Hammer deine Frau?“ „Nein, das war ich ja nicht. Ich bin unschuldig.“ „Ach ja, stimmt ja, da gab’s ja damals diesen komischen Prozess“ … So wird im Grunde genommen bei fast allen Fernseh- und Kinofilmen immer noch versucht, in den Dialog Handlung unterzubringen. Und so eine Art von Kino mag ich nicht.

Seidel: In „Gespenster“ begegnet einem das andere Extrem, vieles wird nur angedeutet und in der Schwebe belassen. Besonders die Hauptfiguren Nina und Toni oder auch das französische Ehepaar erscheinen fast gänzlich ohne Identität. Was hat Sie dazu bewegt, ausgerechnet diese Figuren ins Zentrum Ihrer Geschichte zu stellen? Was fesselt Sie an solchen Gestalten?

Petzold: Ein Beispiel, um noch mal auf den Kalauer zurückzukommen. Ich habe mir gedacht, wenn ein französisches Paar vor 15 Jahren durch eine Entführung die Tochter verloren hat, und diese nie wieder aufgetaucht ist, und wir sehen das Paar jetzt das erste Mal, 15 Jahre nachdem das passiert ist, dann sollten die nicht im Auto sitzen und sich erzählen: „Das mit dem Kind tut mir immer noch höllisch weh“ und so etwas. Sondern man sieht Leute, die 15 Jahre mit einem Trauma leben. Und man sieht hier die Verarbeitungsenergien, um mit diesem Trauma überhaupt existieren zu können. Man sieht sie Bach-Musik anhören, was eine Trostmusik ist. Man sieht gewisse Zärtlichkeiten. Man sieht eine Art und Weise der Distanz und des Respektnehmens und Nicht-Eindringens in den anderen, und das macht diese Figuren reicher und komplexer. Vielleicht auch geheimnisvoller und vielleicht auch sogar gespenstischer, weil sie nicht so fundiert sind. Sie leben so für sich, sie sind mit dem Rücken zu uns. Sie sind auch ein bisschen so, als ob sie an uns vorbeischweben. Und das ist ein gespenstischer Zustand.

Seidel: Wann waren Sie sich darüber im Klaren, in welcher Weise Sie Ihren Film drehen wollen?

Petzold: Ich hatte mal vor ein paar Jahren einen Film gedreht, Toter Mann, da verfolgt ein Mann eine Frau. Da habe ich zum ersten Mal mit der Steadicam-Kamera (Tragstativ, durch das auch mit der Handkamera glatte und ruhige Bewegungen ermöglicht werden; Anm. d. Red.) und im Park gedreht. Das hat mich ungeheuer bewegt. Die Dreharbeiten oder das, was dabei rausgekommen ist, das ist wahrscheinlich in meinem Kopf geblieben, so dass es auch hier so etwas gibt: einen Park, zwei Mädchen, ein Mädchen verfolgt das andere, später schreibt sie über dieses Mädchen ihr Tagebuch. Und während sie das schreibt, erscheint dieses Mädchen schon in ihrem Zimmer und braucht Hilfe. Als ob ihr Schreiben jemanden herbeiholt. Dabei ist diejenige wirklich gekommen. So sind immer beide Sachen da: der Wunsch und die Realisierung eines Wunsches durch Wunschkraft oder Wunschenergie. Und andererseits aber auch eine logische Erklärung. Diese beiden Ebenen sind im Film und durchkreuzen sich.

Seidel: Sie hatten sich von einem Märchen der Gebrüder Grimm inspirieren lassen?

Petzold: Ja, „Das Totenhemdchen“. Während ich schon mitten am Drehbuch zu Gespenster saß, las ich meiner Tochter die Grimmschen Märchen vor. Alle. Das hat ungefähr ein Jahr gedauert, aber „Das Totenhemdchen“ ist eines der ersteren. Es ist eines dieser ganz kurzen Märchen, nur eineinhalb Seiten lang. Eine Mutter hat ein Kind verloren – wie wird nicht erklärt. Das Kind ist also tot, gestorben. Und das Leid der Mutter ist so unglaublich stark, dass das Kind als Gespenst wiedererscheint und in seinem Bettchen schläft und am Frühstückstisch sitzt vor seiner Schale. Und es hat immer ein Totenhemdchen an, erdbefleckt. Irgendwann spricht dieses gespenstische Kind die Mutter an und sagt: „Mutter, ich kann nicht in den Himmel auffahren. Ich muss in meinem Grab bleiben, weil dein Leid so stark ist, dass es mich in der Erde hält.“ Nach drei Tagen schafft es die Mutter mit dem Leiden aufzuhören. Und das Kind kann auffahren in den Himmel. Das ist so das Märchen. Darin stecken natürlich diese ganzen Verluste. Und es gibt keinen Vater in diesem Märchen, nur eine Mutter – ist fast modern, so allein erziehend und so. Es ist natürlich auch diese Zerrissenheit des Dreißigjährigen Krieges darin zu spüren, aber andererseits auch etwas, was es in allen tollen Märchen gibt: eine zweite Ebene. Das ist in diesem Fall die Ebene, dass Eltern nicht loslassen können, selbst im Tod nicht. Und das war für mich das Thema.

Seidel: Die Figuren im Film entwickeln eine unglaubliche Eigendynamik. Man könnte vermuten, dass das Drehbuch am Set immer wieder umgeschrieben werden musste. Stimmt das?

Petzold: Ich nehme das Drehbuch gar nicht mehr so ernst. Das Drehbuch ist ganz wichtig, um zu wissen, warum und wieso das alles ist. Und es gibt auch eine Setzung vor, die ich gesetzt habe. Es gibt also meine Vorarbeit vor. Und wenn wir dann proben und nachdenken und spazieren gehen und Filme gucken, dann ändert sich das Buch. Durch die Darsteller. Durch die kollektive Arbeit. Wenn es sich nicht ändern würde, hätte ich, glaube ich, schlechte Darsteller. Und in dem Moment, wo es sich ändert, und so ändert, dass es richtig und präziser und klarer wird, dann sind die Darsteller toll.

Seidel: Besonders von Julia Hummer scheinen Sie fasziniert zu sein. Sie arbeiten schon das zweite Mal mit ihr zusammen.

Petzold: Es ist auch nicht das letzte Mal, ganz sicher nicht.

Seidel: Was begeistert Sie so an ihrer Art zu spielen?

Petzold: Sie spielt nicht für die Kamera. Einerseits hat man das Gefühl, wenn die Kamera läuft, leuchtet sie auf, wird irgendwie ganz anders, ganz konzentriert. Und andererseits macht sie aber auch zu. Sie spielt ein bisschen mit dem Rücken zum Publikum. Sie präsentiert sich nicht, sondern versteckt sich. Und da ist etwas drin, was mir unheimlich gefällt. Das ist eine paradoxe Situation. Einerseits erst zum Leben erweckt werden durch die Dreharbeiten. Und andererseits aber dieses Leben, was erweckt wird, direkt wieder für sich behalten wollen, den Zuschauern nicht geben. Bei jedem Drehtag wenn die Kamera läuft und sie spielt, bin ich immer ganz beeindruckt.

Gespenster

D/F 2004, 85 Min
Regie: Christian Petzold
Buch: Christian Petzold, Harun Farocki
Kamera: Hans Fromm
Darsteller: Julia Hummer, Sabine Timoteo,
Marianne Basler, Aurélien Recoing, Benno Fürmann

Kinostart: 22. September 2005; Der Film läuft aktuell in der Kinobar Prager Frühling und ab dem 29.9. in der Schaubühne Lindenfels.


Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.