Fünf Jahrzehnte direkt am Menschen

Fotografisches Gedächtnis: Das Werk von Evelyn Richter in Leipzig

Fotografie hat es schwer in Leipzig. Die Leipziger (Maler-)Schule hat den Kunstbetrieb seit drei Jahren fest im Griff. Im Spannungsfeld von Epigonentum und Nachahmung verengt sich der Blick leider zu sehr auf den Leipziger Malerstar Neo Rauch, der seit ein paar Wochen als Nachfolger von Arno Rink in die HGB zurückgekehrt ist. In dieser Gemengelage erweist sich die umfassende Werkschau von Evelyn Richter als ein wirklicher Glücksfall. Auch sie, die 1953 Fotografie an der HGB studierte, ist im weitesten Sinne Teil der für Leipzig so typischen motivischen Auseinandersetzung in der Darstellenden Kunst. Das Medium Fotografie kann die Aufmerksamkeit einer großen Werkschau im neuen Bildermuseum gut gebrauchen; auf der anderen Seite haben Richters Arbeiten im kunsthistorischen Sinne doch wieder etwas mit den inhaltlichen Tendenzen aktueller Entwicklungen in Leipzig zu tun.

Evelyn Richter beginnt in den frühen 50er Jahren mit dem Aufbau eines einzigartigen fotografischen Gedächtnisses. Ihre Arbeiten beschönigen nichts, verfallen aber auch nicht sozial- oder gesellschaftskritischen Reflexen. Richter stößt an die Grenzen der geschlossenen Gesellschaft in der DDR, da sie sich dem von der SED vorgegebenen Kunstverständnis nicht anschließt. Ihre subtilen Alltagsdarstellungen waren jedoch durch ihre entwaffnende Offenheit und Direktheit für die Zensoren nicht fassbar, so dass man ihre Arbeit behindern, aber nicht verbieten konnte.

Am Anfang ihres Schaffens steht die Porträtfotografie. Motive sind anfangs Menschen ihrer Umgebung, während des Studiums auch ihre Kommilitonen. Schon hier zeigt sich die genialische Fähigkeit Richters, den Menschen in der ganz persönlichen Auseinandersetzung mit seiner spezifischen Umgebung einzufangen. In einem der ersten Bilder bleibt neben dem angeschnittenen Kopf des Fischers nur wenig Platz für den weiten, für die Küste typischen Himmel. Das Bild des einsamen Kommilitonen nachts in einem spärlich beleuchteten Hinterhof spricht Bände über das gern verbrämte Studentenleben.
Zwei Themen werden neben den Alltags- und Porträtdarstellungen zu einem Markenzeichen Evelyn Richters: Musiker während der Arbeit und Menschen in Kunstausstellungen. Es erscheint nicht zufällig, dass sie sich damit mit Situationen auseinandersetzt, in denen sich die persönliche Einlassung der Menschen mit der Situation auf unmittelbarste Weise zeigt. Im Bereich der Kunstausstellungen liegt dann doch auch eine politische Dimension: Wie reagiert das „Volk“ auf den staatlich organisierten Kunstbetrieb? Doch auch hier zeigen die Bilder die unspektakuläre Einlassung und Auseinandersetzung der Menschen mit den Bildern, der alltägliche Normalfall interessiert Evelyn Richter.

Und da sind wir bei dem großem Verdienst von Richters Arbeiten: mit ihrer Fotografie gelingt ihr die Visualisierung des wenig Aufregenden, aber die persönliche Erinnerung prägenden Alltäglichen. In jedem gesellschaftlichen System entwickelt sich unter der offiziellen Oberfläche ein lebensnotwendiger Alltag, der sich in gewisser Weise vom System lösen muss. Niemand hätte in der DDR überleben können, wenn er sich in jedem Augenblick seines Daseins mit der in vielen Bereichen unbefriedigenden Situation im offiziell verordneten Arbeiter- und Bauernstaat auseinandergesetzt hätte. Es entstand eine die persönliche Erinnerung prägende Nischengesellschaft, die mit größerem zeitlichen Abstand immer bestimmender wird. Der Rückblick der in der DDR sozialisierten Menschen unterscheidet sich gerade deshalb so stark vom Urteil der „nur“ auf Sekundärinformationen angewiesenen außerhalb des Systems lebenden Menschen.

Zu zeigen, wie allzu menschlich das Leben in der DDR war, kann helfen, die eindimensionale, auf Unterschiede ausgerichtete Diskussion zwischen Ost und West zu beleben. Ein Dialog entsteht, wenn es gelingt Gemeinsamkeiten zu finden. Evelyn Richters Aufnahmen von in ihre Arbeit versunkenen Arbeitern in den 60er Jahren neben ähnlichen Situationen aus Westdeutschland könnte zeigen, wie ähnlich der Alltag im damals geteiltem Deutschland ausgesehen hat.

Evelyn Richter: Rückblicke Konzepte Fragmente
18. 9. – 20. 11. 2005
Museum der Bildenden Künste Leipzig
Bilder: Museum der Bildenden Künste
1. Musikviertel, 1976;
2. An der Linotype, ND-Druckerei, um 1960

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