Festival der zeitgenössischen Musik

„WIEN MODERN 2005” diesmal mit Werken von Cerha, Resch und Scelsi im Wiener Konzerthaus

Jedes Jahr trifft sich in Wien beim Festival für zeitgenössige Musik das „Who is Who“ der europäischen Avantgarde. WIEN MODERN ist seit einer Initiative durch Claudio Abbado 1988 eine einzigartige Erfolgstory. 2005 kann man an 24 Tagen nicht weniger als 80 Veranstaltungen, zwei Auftragskompositionen, einige Uraufführungen und unzählige österreichische Erstaufführungen zeitgenössiger Musik erleben. Einzigartig ist neben der puren Arithmetik die Vitalität und die Wahrnehmung des Festivals in der österreichischen Kulturmetropole. Die 15 Spielstätten sind etablierte und präsente Orte im Stadtbild, das Publikum ist zahlreich, alle Generationen sind vertreten. Wo man in Deutschland dem betagterem Publikum die Chance einräumt, klassische Konzerte elegant nach den Klassikern zu verlassen, da die Modernen oft erst nach der Pause gespielt werden, überrascht bei WIEN MODERN gerade das Interesse der älteren Generation an unbekannten Hörerlebnissen.

Ein Schwerpunkt in 2005 ist der Italiener Giacinto Scelsi. In mehreren Konzerten wird sein bisher nur wenigen „Eingeweihten“ bekanntes Werk vorgestellt. Gelungen ist es zudem, Musikerinnen zu gewinnen, welche in seinen letzten Lebensjahren mit ihm aufführungsreife Stücke für seine Improvisationen erarbeitet haben. Das klingt ungewöhnlich und muss erläutert werden: Komponieren im ursächlichen Wortsinne bedeutet etwas zusammenfügen, in diesem Sinne verstand Scelsi seine Arbeit nicht. Man könnte seine Tätigkeit eher als die eines Klangforschers bezeichnen. Er „empfing“ die Klänge, indem er stundenlang am Klavier oder an der Ondioline, einem frühen elektronischen Musikinstrument, improvisierte. Routinierte Komponisten fertigten dann von den Tonbandaufnahmen dieser Improvisationen Transkriptionen an oder Scelsi erarbeitete direkt mit den Interpreten die Partituren. So wie ein Architekt mithilfe vieler Fachleute und Handwerker seine Visionen umsetzt, trennte Scelsi bewusst die künstlerische Erfindung von der handwerklichen Umsetzung.
Seine Kantate „La Nascita del Verbo“ wurde 1950 in Paris uraufgeführt. Der religiöse Gehalt des Stückes ist auf wenige Worte reduziert. Mythisch beginnt der erste Satz mit schwirrenden Schlagzeugflächen. Der Chor übernimmt diese Stimmungen: Töne werden nur gesummt, die fünf Vokale u-o-a-e-i werden ausgiebig variiert. Nach sehr rhythmischen Entwicklungen durch die Trommeln tritt das Orchester wieder in ätherischen Klängen zurück. Die Singstimmen werden eigenständiger und treiben vom dunklen „u“ ausgehend das Geschehen bis zum hohen „i“ in die Höhe. Die beiden Mittelteile sind ganz auf die Worte „Deus“, „amor“ und „lux“ ausgerichtet. Nach hellem Blechbläserclustern erklingt das erste kraftvolle Deus. Die modulierenden Stimmen setzen im weiteren die Akzente, die Instrumente agieren danach oder im Dialog mit ihnen. In diesem frühen Stück deutet sich bereits die starke Innerlichkeit des Schaffens von Giacinto Scelsi an. Außerdem bekommt man schon eine Ahnung für die sein späteres Schaffen charakteristischen, im Raum fluktuierenden Klänge. Johannes Kalitzke führt das Radio-Symphonieorchester Wien inspiriert und sicher durch die ungewohnte Klangwelt. Der Wiener Kammerchor in einer Einstudierung des neunundzwanzig Jahre jungen Michael Grohotolsky lässt sich mit Verve auf den anspruchsvollen Vokalsatz ein.

Im ersten Teil des Konzertes im ausverkauften Großen Saal des Wiener Konzerthauses war eine Komposition des 1929 in Wien geborenen Friedrich Cerha und eine Uraufführung des dreißig Jahre jungen, ebenso aus Österreich stammenden Gerald Resch zu hören. Cerhas Stück „Fasce“ ist 1959 entstanden, etwa zu der Zeit als sich Giacinto Scelsi in einer schweren persönlichen Krise befand, welche er im Nachhinein damit erklärte, dass er sich bis dahin zuviel „mit Kontrapunkt, Septimentenauflösung und Zwölftontechnik“ und zu wenig mit dem Klang an sich beschäftigt hatte. Nach dieser Krise wird er die Transkriptionen seiner Schöpfungen ausschließlich Anderen überlassen. Auch Friedrich Cerha ist 1959 an einem Punkt, wo er fühlte, dass die rein strukturelle Herangehensweise und der Verzicht auf motivisch-thematischer Elemente in modernen Kompositionen Gefahr läuft, dass der musikalische Ausdruck verarmt. In „Fasce“ versucht er, Gedanken aus der damals aufkeimenden Kybernetik in seine Musik zu transportieren. Die Komposition als ein System unterschiedlicher Komponenten, welche sich stören, ergänzen, behindern oder ausschalten. Übergeordnete Systeme versuchen Störungen auszugleichen, wenn das nicht gelingt, verändern sich dann auch diese. „Fasce“ beginnt mit sphärischen Momenten, Töne werden moduliert, eine flächige akzentlose gestrichene Struktur, welche die Flöten übernehmen bis großes Blech störend eingreift. Der dritte Teil beginnt mit Geräuschexplosionen, der Pegel wird dann durch kreisende Bewegungen eingefangen, am Ende bleibt ein insektenhaftes Flimmern, welches Johannes Kalitzke in einer betörenden Dichte umsetzt. Der Auftakt zu den im Januar beginnenden Konzerten anlässlich Cerhas achtzigstem Geburtstag macht Lust auf Mehr und unterstreicht die herausragende Stellung Wiens im Bereich der Musik.

Gerald Resch vergleicht sein Stück „Schlieren“ für Violine und Orchester mit einer „Polyphonie von Anordnungen, wie die Kirche San Clemente in Rom, wo auf ein römisches Wohnhaus eine frühchristliche Oberkirche gebaut wurde, die dann schließlich noch barockisiert wurde“. Resch beschreibt hier sehr gut seinen eklektischen Ansatz. Da beginnt die Violine mit energischen assoziativen Themen, auf jazzige Elemente der Bläser folgen rhythmische Harfenaktionen. Die Sololinie trifft gegen Ende immer öfter mit dem Orchester zusammen. Das wirkt über weite Strecken beliebig – eine Montage von Bekanntem – und kann nicht überzeugen. Um auf die Kirche von San Clemente zurückzukommen: die Faszination dieses Bauwerkes rührt doch daher, dass das römische Wohnhaus „nicht gewusst hat“, dass es später mehrfach überzeichnet wird. Gerade in der authentischen Überlagerung der Zeiten und Handschriften liegt die Genialität, der Versuch so einen Prozess handwerklich nachzuvollziehen ist heute grandios gescheitert. Neben den Klanggiganten Cerha und Scelsi hatte es diese Uraufführung natürlich auch nicht gerade leicht.

In Scelsis Welt kann man am darauffolgenden Tag erneut eintauchen. Im Odeon, der alten Börse in der Taborstraße, einer der ältesten Straßen Wiens, trifft sich wieder die „Gemeinde“ des Italieners. Diesmal stehen Solostücke auf dem Programm allesamt aufgeführt von Frauen, welche in den letzten Lebensjahren mit Giacinto Scelsi zusammengewirkt haben. Scelsi und die Frauen: offensichtlich hat er mit seiner spirituellen Herangehensweise auf das weibliche Geschlecht sehr anziehend gewirkt. Joelle Léandre ist sogar der Meinung, dass „er die Ausdruckskraft, die Verantwortung und die innere Natur der Frauen“ gegenüber männlichen Eigenschaften bewusst bevorzugte. Sie stellt diese These auch selbst unter Beweis. Mit den Stücken „Mantram“ und „Maknongan“ gibt sie eine Vorstellung von der meditativen und spirituellen Kraft Scelsischer Schöpfungen. Stehend bearbeitet sie ihren Bass, die Töne fließen aus ihrem Körper über das Instrument in den Raum. Physische Krümmungen entsprechen modulierenden Tönen, eingänge Akkordfolgen trägt sie dann konzentriert vor. In „Maknongan“ kommen ekstatische Laute und Schreie hinzu. Die Kulisse könnte nicht besser gewählt sein. Der riesige alte Saal ruht auf mächtigen Säulen. Sich lösende Farben, provisorisch ausgemauerte Öffnungen verbreiten einen morbiden Charme. Die schiere Anzahl der Stücke führt leider zu Ermüdung, die klassische Anordnung auf (harten) Stühlen verhindert das vollständige Versinken in Scelsis Kosmos. Man wünschte sich eine bequeme Loungeatmosphäre, um sich Stücken wie der Klaviersuite „Ttai“ ausliefern zu können. Marianne Schroeder verschwendet sich noch in den leisesten Strukturen, auf trockene jazzige Elemente, die an Konzerte von Keith Jarrett erinnern, folgen verspielte Phantasien. Am Schluss vertreibt die Begeisterung die physische Ermüdung und „Scelsis Frauen“ werden ausgiebig gefeiert.

WIEN MODERN 2005

Friedrich Cerha (geb. 1929)
„Fasce“ (1959/74) für großes OrchesterGerald Resch (geb. 1975)
„Schlieren“ (2005) für Violine und Orchester
Wien Modern Auftragskomposition – Uraufführung
I. fließend II. pochend III. verspieltGiacinto Scelsi (1905-1988)
„La Nacita del Verbo“ (1947/48)
I. Halbe = 40
II. Andante – Tranquillo assai – Maestoso
III. Fuga. Giocoso – Espressivo, Cantabile – Pi? Largo – Tempo I – Pescante – Grandioso – Tempo I
IV. Lento – Pocco movendo – Pi? Lento – Adagio

Radio-Symphonieorchester Wien
Wiener Kammerchor
Patricia Kopatchinskaja – Violine
Johannes Kalitzke – Dirigent

Samstag 26. 11. 2005, 19.30 Uhr
Odeon, Taborstraße 10

Giacinto Scelsi (1905-1988)
„Mantram“ (1987) für Kontrabass (Joelle Léandre)

„Tre Sudi“ (1954) für Klarinette (Carol Robinson)

Auszüge aus „Canti del Capricorno“ (1962-72) für Stimme (Pauline Vailancourt)

Suite Nr. 9 „Ttai“ (1953) für Klavier (Marianne Schroeder)

Auszüge aus „Canti del Capricorno“ (1962-72) für Stimme (Pauline Vailancourt)

„Voyages“ (1974) für Violoncelle (Frances-Marie Uitti)
1. Il allait seul 2. Le Fleuve magique

„Manto“ (1957) für Violoncello mit zwei Bögen (Frances-Marie Uitti)

„Three Latin Prayers“ (1970) Version für Klarinette (Carol Robinson)
1. Ave Maria 2. Pater Noster 3. Alleluia

„Maknongan“ (1976) für Kontrabass (Joelle Léandre)

Freitag 25. 11. 2005, 19.30 Uhr, Wiener Konzerthaus – Großer Saal, Lothringerstraße 20


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