Der große Wurf

Mit „Cut VI-VIII” des Leipziger Komponisten Bernd Franke zeigt Dirigent Ricardo Chailly, was in ihm steckt

Jetzt endlich ist Riccardo Chailly der Wurf gelungen, auf den man seit seiner Entscheidung nach Leipzig zu kommen vor fast vier Jahren gewartet hat. Im restlos ausverkauften Gewandhaus zelebriert er mit der Uraufführung von Cut VI-VIII vom Leipziger Bernd Franke ein berührendes Fest der (musikalischen) Sinne. Lebendiger kann man Leipziger Musiktraditionen nicht denken.

Den Rahmen für Frankes Komposition bildet Anton Weberns „Passacaglia“ und nach der Pause, am Schluss des Konzertes Tschaikowskis 5. Sinfonie. Weberns Opus 1 aus dem Jahr 1908 markiert den Abschluss seiner Studien bei Arnold Schönberg. Eine Komposition von dieser Länge und Besetzungsstärke hat Webern danach nie wieder in Angriff genommen. Für Chailly und das Gewandhausorchester heute als Einstimmung in Frankes gewaltige Klangschöpfungen wie geschaffen. Doch wer bei dem spätromantischen Klangapparat aus dreifachen Holzbläsern, vier Hörnern, je drei Trompeten und Posaunen, Basstuba, Pauke, Schlagzeug, Harfe und Streichern in lastenden Brahms´schen Dimensionen denkt, wird schon am Anfang überrascht. Hauchfeine Pizzicato-Töne entwickeln durch eine leichte Verschiebung eine klare Thematik, das dann einsetzende Blech weist die Richtung in eine farbige weitausholende Melodik. Doch bevor sich alle Stimmen in einem sportlichen Orchestertutti entladen, öffnen uns Violinensoli, hervorragend der heutige Konzertmeister, und berührende Akkorde der Harfe alle Poren. Die gezupften Streicher geben immer wieder Form, die Posaunen entwickeln eine deutliche Präsenz, ihnen ist auch der Schluss des Stückes vorbehalten. Gierig registrieren die Musiker jede Nuance, jede Regung ihres Chefdirigenten, am Ende hängen die Posaunen Riccardo Chailly buchstäblich am kleinen Finger, völlig regungslos bewegen sich an Chaillys hocherhobener Hand nur noch einzelne Fingerglieder bevor die Musik entschwindet.

Bernd Franke ist seit seinem Studium an der Leipziger Musikhochschule Ende der 1970er Jahre in Leipzig präsent. Fast schon eine regelmäßige Zusammenarbeit verbindet den in Weißenfels geborenen Künstler mit dem Gewandhaus, unter Kurt Masur wurden mehrere seiner Werke uraufgeführt. Ricardo Chailly hat diesen Faden, wie man aus den Presseerklärungen des Gewandhauses erfährt, für die Uraufführung von Frankes jüngster Komposition mit Leidenschaft und Engagement aufgenommen, nach intensiver Beschäftigung mit der Partitur und Kontakt mit Franke hat er sich dann dafür eingesetzt, dass heute die sogenannte Simultanversion aufgeführt wird und nicht wie von Franke vorgesehen die Einzelsätze. Frankes Komposition verwehrt sich gängigen Kompositionsweisen, sein Ansatz liegt auf einer sehr subjektiven Ebene. Dabei dienen außereuropäische musikalische Traditionen zum Beispiel balinesischer Musik und nichtmusikalische Impressionen als Inspirationsquellen. Herausgekommen sind raumgreifende Strukturen, für die riesige Partitur bedarf es erst mal eines neuen (großen) Pultes.

CUT VI beginnt kraftvoll, mit Trompeten. Die einsetzenden Trommeln zeichnen eine alle drei Sätze verbindende rhythmische Figur. Franke hat sich in CUT VI mit Bach auseinandergesetzt, eine Arie integriert. Der bachschen Kompositionen innewohnende Drive hat ihn zu einer energiegeladenen Struktur inspiriert. Auf- und abschwellende dumpfe Pizzicatos werden mit melodischen Linien überlagert, Unschärfen in der rhythmischen Entwicklung halten die Spannung. CUT VII konzentriert sich auf den instrumentalen Gesang, aus den wenig akzentuierten kreisenden Bewegungen entwickelt die Querflöte plötzlich eine einfachste Melodie. Wie sich Licht in einem Kristall spiegelt, bricht und reflektiert wird, vervielfachen sich die Linien, dehnen einen unendlichen Raum. Chailly arbeitet hochkonzentriert. Mit seinem physischen Engagement, seiner sprühenden Spielfreude elektrisiert er die Musiker des Gewandhauses. CUT VIII ist Frankes Mentor Hans Werner Henze gewidmet. An der Orgel positioniert beginnt das Solocello, man braucht Sekunden, um diese räumliche Differenzierung einzuordnen. Kammermusikalisch intendiert stehen die Stimmen eher hintereinander, Flöten tragen das Thema des Cellos ins Orchester. Klare Linien etwa der Harfe stehen gegen spontane Ausbrüche. Mit einem sehr assoziativen Dialog der Celli endet CUT VIII. Die Begeisterung des Orchesters und seines Chefs ist längst ins Publikum übergesprungen, wie nur selten nach Aufführungen zeitgenössiger Kompositionen schwillt spontaner Applaus, vor allem auch für den anwesenden sichtlich bewegten Bernd Franke. Frankes Komposition ist angekommen, im Bauch des Leipziger Publikums. Seine unakademische Herangehensweise meistert die Gefahr der kopflastigen Langeweile, weil sie sich nicht auf eine bestimmte Richtung festlegt. Serielle oder aleatorische Komponenten bleiben immer Werkzeug, werden nicht zum ermüdenden Selbstzweck. Auf der anderen Seite zeigt uns Franke, dass zwischen den Extremen unverstandene Avantgarde und dem immer beliebter werdenden bloßem Zitieren aus der Musikliteratur riesige Potentiale schlummern, die es zu entdecken gilt. Man darf gespannt sein, wann Franke das nächste Mal auf dem Spielplan des Gewandhauses steht!

Nach der Pause, für Tschaikowskis 5. Sinfonie, benötigt Chailly sein Pult nicht mehr. Repertoire aus dem Jahr 1888! Was hier begeistert, ist Chaillys Gestaltungswillen, seine raumgreifende Energie mit denen er Orchester und Publikum in seinen Bann zieht. Feinste Nuancierungen spürt er auf, mit eigenwilligen Akzentuierungen des Tempos gewinnt er diesem weit über hundert Jahre alten Stück auch noch Überraschendes ab. In der Hochstimmung des Abends gerät Tschaikowskis selbstzweiflerisches Stück sehr hell und etwas blechlastig, was der Dramaturgie des heutigen Programms (das Stück mit dem höchstem Applauspotential am Schluss) freilich noch das i-Tüpfelchen aufsetzt. Auf den letzten Takt reißt es die Leipziger von ihren Sitzen, um ihren Star aus Mailand zu huldigen.

Großes Concert

Anton Webern
Passacaglia op. 1

Bernd Franke
Cut VI-VIII
(Uraufführung, Auftragswerk des Gewandhauses zu Leipzig)

*****

Peter Tschaikowski
5. Sinfonie e-Moll op. 64

Gewandhausorchester
Riccardo Chailly

Dienstag, 26. Mai 2006; 20:00 Uhr, Gewandhaus Großer Saal

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.