Scharfsinn und Kennerschaft

„Als Poesie gut“: Günter de Bruyn schildert „Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807“

„Als Poesie gut“, so lautete die denkwürdige Antwort des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. auf eine abgelehnte „Denkschrift“ des berühmten Militärreformers Graf August Wilhelm Antonius Neidhardt von Gneisenau. Günter de Bruyn hätte kaum einen passenderen Buchtitel für sein rechtzeitig zum 80. Geburtstag im November 2006 erschienenes „Opus magnum“ wählen können als diesen zwischen Idee und Realität ironisch schillernden.

Der König setzte „Poesie mit Gefühlsüberschwang und Phantastik“ gleich. Vergebens mühte sich Gneisenau darum, dem sittenstrengen, aber etwas stumpfsinnigen Monarchen verständlich zu machen, dass „allen patriotischen, religiösen und sittlichen Gefühlen Poesie zugrunde läge und somit auch die ?Sicherheit der Throne‘ auf Poesie gegründet sei.“ Was manchem auch heute noch wenig einleuchtend erscheinen mag, war historische Wirklichkeit in der Zeit um 1800, als die Wege in die Moderne geebnet wurden. Denn es war eine Gruppe durch die Kraft der Sprache und der Poesie miteinander verbundener Dichter, Philosophen und Gelehrter, die in einer gemeinsamen geistigen Anstrengung die ideellen Fundamente des gegenwärtigen deutschen Staates legten.

Wie das Poetische zum Politischen umgemünzt wird und stets hinüber in das Wirkliche und die Gestaltungsmöglichkeiten des Wirklichen spielt, zeigt diese anekdotenhafte Szene als Detail für das Ganze. Kennerschaft und Urteilsschärfe bestimmen den auf mehr als fünfhundert Seiten entstehenden Reigen von „Schicksale[n] aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807“. Aus geschickt, gewitzt und detailreich erzählten essayistischen Porträtstudien entsteht ein durchdachtes Panorama, das sich als Meisterwerk der „Sehekunst“ ausweist.

Denn die überaus schwierige Aufgabe, ein Geschichtspanorama in einer gewandten und plausibel arrangierten Form zu entwerfen, ohne dabei allzu farbenprächtig auszumalen oder einseitig zu skizzieren oder karikierend zu verzerren, löst Günter de Bruyn durch die mannigfaltigen Blickwinkel, von denen aus die vielen Hauptakteure seines Buches ihre Welt betrachten. Ein „Ideengewimmel“ der Weltanschauungen und Erlebnisse eröffnet sich vor dem inneren Auge des Lesers. Nach Art romantischer Literaturvorstellung wird das Große und Ganze mit dem zu Beginn und zum Schluss des Buches sich wiederholenden Kapitel „Anfang und Ende“ eingegrenzt. Zwei Zeitpunkte sind es, die Ausgang und Übergang von „Ende und Anfang“ bilden: der 1786 sterbende alte Fritz und die 1807 stattfindende Begegnung Napoleons mit der energisch für Preußen eintretenden Königin Luise, einige Monate nach der entscheidenden preußischen Niederlage bei Jena und Auerstedt und dem Ende des alten Reiches. Für Günter de Bruyn die beiden bedeutenden politischen Ereignisse, von denen eine enorme Sogkraft auf das gesamte Kulturleben dieser Zeit ausging.

Dazwischen ein bunter Bilderbogen interessanter Figuren, die miteinander, gegeneinander, nebeneinander leben, dichten, schreiben, malen, gesellig und kunstsinnig tätig sind: Dichter wie Kleist, Karl Philipp Moritz, Schiller, Jean Paul, Fouqué, Tieck oder der vom Buchautor schon in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wiederentdeckte, skurrile Schmidt von Werneuchen. Maler und Bildhauer wie Schadow und Schinkel, Musiker wie Zelter, Philosophen wie Fichte und Schelling, Gelehrte wie die Brüder Humboldt, die Brüder Schlegel oder Steffens, Kriegstheoretiker wie Gneisenau und Clausewitz, der hier in einem intimen Kammerspiel als Liebender gezeichnet wird, ja selbst Berliner Ärzte wie der anekdotenumrankte Doktor Heim bestimmen die Szenerie. Publizisten und Historiker, Salonieren wie Henriette Herz oder die legendäre Rahel Levin samt der dazugehörigen Liebschaft aus dem Hause Finkenstein gesellen sich hinzu – auch dies seit langem eines von Günter de Bruyns vielen Lieblingsthemen. Nicht zu vergessen die berühmte Königin Luise von Preußen oder der einzige Klaviervirtuose und Causseur von Hohenzollerns hohen Gnaden Prinz Louis Ferdinand… Sie alle sind – jeder für sich – ausgeprägt individuelle Gestalten, die ihren ganz eigenen, charakteristischen Blick auf die Dinge haben, manche von ihnen, wie der extrem widerspruchsreiche Heinrich von Kleist, mit überaus scharfem, gebrochenem Profil. Aber diese merkwürdigen Menschen verbinden sich in Berlin durch Sprachkraft und Zeitgenossenschaft miteinander. Denn was sie alle vereint, ist ihr Leben in dieser Zeit an diesem Ort, und es ist ihre Fähigkeit, durch ihre Sprache ihre Zeit zu erfahren, zu beschreiben, zu verändern und – nicht zuletzt – ihre Ansichten für die Nachwelt festzuhalten. Günter de Bruyn filtriert mit Kennerblick aus den ergiebigen Memoiren, Briefen und publizistischen Schriften seiner vielseitigen Protagonisten das Essentielle heraus.

So fließt in diesem Handlungsraum Berlin durch den Blick verschiedentlich gearteter Individuen erzählte Zeit. Und aus dieser erzählten Zeit entsteht im Ablauf des Lesens ein Insgesamt von vielen strukturiert vermittelten Einzel-Blickwinkeln. In all den charakteristischen und einprägsamen Einzelheiten, die als Leitmotive geschickt wiederholt werden, wird fast unbemerkt und wie unter der Hand etwas ganz Einzigartiges sichtbar: ein großes detailliertes Panorama.

Doch die Kunstfertigkeit des gewieften und mit allen Wassern der Romantik und des Realismus gewaschenen Erzählers Günter de Bruyns geht – fast ist man geneigt zu sagen: selbstverständlich – noch weiter. Denn der überwiegend „romantische“ Erzählgegenstand wird mit den Mitteln „realistischen“ Erzählens verarbeitet: klar, präzise, aber unaufgeregt, zurückhaltend, bisweilen sogar nüchtern. Die Sätze sind ironisch gewürzt und mit scharfem Blick auf das Unzulängliche in Vergangenheit und Gegenwart verfasst. Liest man die Nachworte Günter de Bruyns aus dem von ihm zu DDR-Zeiten zusammen mit Gerhard Wolf angebauten „Märkischen Dichtergarten“ nebenher, – Essays, die nun wie Vorstudien für dieses Alterswerk wirken -, lässt sich ablesen, wie der passionierte Literaturaufspürer sein Urteil hat reifen lassen, wie er nun manches anders sieht, vieles neu bewertet und geschickter, funkelnder aneinanderzureihen versteht, dabei Bewährtes übernimmt.

So verwirrend die Gesamtheit des Panoramas, so ergiebig und einprägsam sind die Einzelheiten der Gesamtschau auf das Berlin des romantischen Zeitalters. Was der stärkste Vorzug des Werkes ist, liegt schon nach wenigen Seiten Lektüre rasch auf der Hand: Stets bleibt das Buch beeindruckend nah am Leben, atmet es Erfahrung und ereignisreich gelebte Zeit, trotz des passagenweise etwas sperrigen Duktus‘ Günter de Bruyns, der konzentriert und aufmerksam gelesen sein will, weil sich seine inhaltsreiche Prosa einer leichten und oberflächlichen Rezeption bewusst entzieht. Im Grunde schildert der Autor nichts weiter als Sachverhalte, aber so gekonnt, dass die innere und verborgene Seite der Ereignisse und der Gestalten mit kunstvoller Klarheit bemerkbar und durch das Lesen erfahrbar wird.

Der historische Erzähler geht dabei seiner selbst auferlegten Chronistenpflicht mit der Akribie des Nachdenklichen und der Schärfe des wachen Kritikers nach: Sein genauer Blick sieht mit Vorliebe das Beiläufige, Unausgesprochene, Versteckte, Alltägliche, beachtet auch das von der Literaturgeschichte Vergessene und Übersehene mit der sich selbst treu bleibenden angestrengten realistischen Aufmerksamkeit. Es ist die Kunst und Bürde, sein Leben zu führen, die Günter de Bruyn beschreibt. Abseits der großen Ideen muss der Alltag bewältigt sein. Diese Ideen stellt der Erzähler nicht in den luftleeren Raum, er „vererdet“ sie gewissermaßen in der Alltagswelt. Weit entfernt, das Bedeutende zu heroisieren, bleibt der Autor besonders bei bedeutenden Momenten der Geschichte immer beeindruckend skeptisch, sogar nüchtern. Die in dem grazilen Gewebe seines großartigen Miniaturenpanoramas zu Tage tretenden Detailkenntnisse dürften dabei selbst gestandene und ausgewiesene Spezialisten in Verlegenheit bringen – aus mehreren Gründen.

Denn dieses Buch schließt eine Lücke: Es zeigt, wie eindrücklich sich mit der deutschen Sprache auch im Jahr 2006 Geschichte erzählen lässt – eine alte Tugend, die in der modernen wissenschaftssprachig orientierten Geschichtsschreibung in Deutschland etwas aus der Mode gekommen ist. Es vermittelt eine geschickt verbundene und verbindliche Kulturgeschichte der romantischen Kunst in Berlin, wie sie der Gegenwart zum Vorbild und zum Anlass zur „bildenden Nachahmung des Schönen“ werden könnte. Es gibt im Wirrwarr der wissenschaftlichen Spezialisierung und „Verfachsprachlichung“ dieses mitreißenden Gegenstandes endlich den schon lange schmerzlich vermissten, grundlegenden Überblick zur Romantik in Berlin. Geschrieben für alle interessierten Leser, dürfte es dennoch an gut fasslichem Faktenreichtum schwer zu überbieten sein. Es beweist im besten Sinne, was es bedeuten kann, wenn ein historischer Erzähler sich als ein „rückwärts gewandter Prophet“ versteht und in einer anspruchsvollen Art und Weise zu schreiben weiß, zu deren Verständnis gleichwohl kein Universitätsstudium vonnöten ist.

Bleibt nur zu wünschen, dass die Ankündigung am Schluss des Buches „Ende des ersten Teils“ keine ironische Anspielung auf die Form der romantischen Fragmente sei, sondern dass Günter de Bruyn noch Kraft und Zeit genug haben möge, seinen Lesern die Berliner Zeit der Gebrüder Grimm und Hegels, Heines, ja Fontanes, Gutzkows und all den anderen heute vergessenen und verborgenen Talenten zu schildern, die das Ganze erst eigentlich interessant werden lassen.

Günter de Bruyn: Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1806
S. Fischer – Frankfurt am Main 2006
512 Seiten – 24,90 €

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