Entzauberung

Gereon Müller spricht über „Linguistische Mythen“

Sprache umgibt uns alle. Jeder spricht, hört, liest Sprache. Folglich bildet sich auch jeder eine Meinung zum Thema Sprache. Zudem kursieren Gerüchte über unglaubliche Absurditäten in Sprachen und selten gibt es eine Plattform für Wissenschaftler, diese Mythen vor größerem Publikum zu zerstreuen. Gereon Müller, Professor für Sprachwissenschaft am Institut für Linguistik der Universität Leipzig, hatte sich angeschickt, in seinem Vortrag „Linguistische Mythen“ populäre Irrtümer im Bereich Sprache zu benennen und wissenschaftlich zu dekonstruieren. Der Vortrag war Auftakt der Reihe Kosmos Sprache im Rahmen des Studium generale der Universität Leipzig. Nach einer kurzen Einführung vom Vorsitzenden des Vorbereitungskreises, Prof. Dr. Elmar Schenkel, welche in bekannt legerer Manier ausfiel, richtete Prorektor Professor Dr. Wolfgang Fach einige Worte ans Publikum. Hierbei fabulierte er darüber, was das Gegenteil von Sprache sei und ließ die Anwesenden an dem Erkenntnisgewinn teilhaben, dass es möglich sei, über Sprache zu reden.

Im eigentlichen Vortrag schließlich stellt Müller zunächst einige beliebte Sprachmythen vor: Die Eskimos haben unzählige Wörter für Schnee, Somali hat viele Wörter für Kamele, das Deutsche hat ungewöhnlich lange Komposita, es gibt Sprachen ohne Grammatik, es gibt Sprachen mit schlechter Grammatik und das Deutsche stirbt aus (schuld daran ist vor allem Englisch). Jeder Mythos wird vorgestellt, unter die Lupe genommen und entzaubert. Beispielhaft wird eine der vielen Eskimosprachen mit enttäuschend wenigen, nämlich nur sieben Begriffen für Schnee vorgestellt und mit dem Deutschen verglichen, welches sehr viele Ausdrücke besitzt, um die unterschiedlichsten Arten von Schnee zu beschreiben (zum Beispiel Schnee, Harsch, Firn, Sulz, Eis, Gries, Neuschnee, Altschnee, Bruchharsch, Pulverschnee, Feuchtschnee, Pappschnee, Schneematsch, Schneeregen, Schwimmschnee, Flugschnee…). Bezeichnungen für Dinge werden entwickelt, wenn sie gebraucht werden. Somit ist es aus sprachwissenschaftlicher Sicht nichts Ungewöhnliches, dass es Begriffe gibt und ihre Anzahl für Dinge, die vermeintlich dasselbe sind, zunächst nicht weiter interessant.

Weiterhin erfährt man, dass Deutsch keineswegs die einzige Sprache mit langen Komposita ist, es kann also nicht die Rede von einem ungewöhnlichen Phänomen sein. Allerdings lässt der Laie sich gern davon irritieren, dass Komposita in anderen Sprachen nicht zusammengeschrieben werden. Auch nicht zulässig ist die Behauptung, es gäbe Sprachen ohne Grammatik oder mit schlechter Grammatik. So kann eine sehr freie Wortstellung kein Beweis dafür sein, dass zum Beispiel Walpiri, eine australische Sprache, ohne Regeln sei, da es über Marker verfügt, die das Subjekt deutlich vom Objekt unterscheiden.

Auch die Grammatik von Dialekten ist nicht schlechter oder primitiver als die der Standardsprache, sondern lediglich anders. Hier zeigt Müller die regelhafte Systematik vermeintlicher grammatischer Fehler im Rheinischen. Zwar weicht das Rheinische vom Standarddeutschen ab, wenn gesagt wird „Ich wünsche Ihnen noch einen guter Tag.“, aber von schlechter Grammatik kann keine Rede sein.

Schließlich kommt Müller auf die weit verbreitete Annahme zu sprechen, dass es mit der deutschen Sprache bergab ginge und bedient sich bei Bastian Sicks Zwiebelfisch-Kolumnen. Zunächst geht Müller auf den eklatanten Kategorienfehler ein, den Sick begeht: Fragen der Orthographie, des Stils und der verwendeten Wörter sind keine Fragen der Grammatik und haben auf diese auch keinerlei Einfluss. Bei Sick hingegen werden diese Punkte gerne vermengt und wenn er sich beschwert über schlechten Stil, falsch geschriebene Wörter und Anglizismen, dann ist das eine Sache. Die syntaktische Struktur des Deutschen aber kann kein überflüssiges Apostroph und keine Entlehnung aus dem Englischen verändern. Bei der Behauptung, das Deutsche verkomme, wird sich jedoch immer auf veränderten Gebrauch bezogen, der in den seltensten Fällen tatsächlich eine grammatikalische Veränderung bedeutet: Der rückläufige Gebrauch des Imperfekts ist aber keine Schludrigkeit, sondern eine Verschiebung des Tempussystems. Und gegen derartige Mechanismen des Sprachwandels können alle polemischen Artikel zusammen nicht anschreiben.

Gewiss haben die Fachfremden unter den Anwesenden im voll besetzten Veranstaltungsraum nicht mit allen linguistischen Fachbegriffen etwas anfangen können. Während es aber für das Ziel des Vortrags nicht notwendig war zu wissen, was ein auxiliarähnliches Element oder der Theta-Kasus ist, ist es unumgänglich, Behauptungen wissenschaftlich zu dekonstruieren und dabei auf Fachtermini zurückzugreifen oder Erkenntnisse zugrundezulegen, die in der Linguistik zum „Allgemeinwissen“ gehören. Außerdem trifft sich diese Situation mit der Forderung Müllers, dass man die besprochenen linguistischen Mythen durch echtes linguistisches Wissen ersetzen möge. Im Anschluss an diese Forderung sollten zentrale Eigenschaften aller Sprachen besprochen werden, aus Zeitgründen mussten aber doppelte Artikulation, Kompositionalität und Minimalität ausgespart werden und man erhielt nur einen kurzen Einblick in Rekursion. Angesichts der Tatsache, dass cirka ein Drittel der Anwesenden Müllers Ausführungen im Stehen lauschten, waren darüber vielleicht nicht alle böse, hatten sie doch bis dahin einen sehr informativen und spannenden Vortrag geniessen können.

„Linguistische Mythen“ – Vortrag im Rahmen des Studium generale der Universität Leipzig
Städtisches Kaufhaus
Vortrag: Prof. Dr. Gereon Müller
17. Oktober 2007
www.uni-leipzig.de/~muellerg/mu800.pdf
www.uni-leipzig.de/studiumuniversale/aktuell.html

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