André Gorz‘ „Brief an D.” soll eine Liebeserklärung sein und rückt doch den Autor in den Mittelpunkt
An seinem Lebensabend blickt der Autor André Gorz zurück und empfindet Schmerz, als er erkennt, dass er sein Leben lang geschrieben hat und der Person, die ihm am nächsten stand, dabei zu oft nicht gerecht geworden ist. Als Figur hat er sie zu kurz kommen lassen, sie zu blass und verkürzt dargestellt und dachte doch damals, aus der Wirklichkeit zu schöpfen. Das quält ihn und die Frage nach dem Warum versucht er auf die Art und Weise zu ergründen, die er seit Jahrzehnten kennt: Er schreibt.
Er schreibt vom Zauber der ersten Begegnungen, von Liebe, Begehren und Hingabe. Kindheitliche Fundamente ihrer Verbundenheit werden aufgezeigt, anfängliche Hindernisse im Familienkreis und Mittellosigkeit, die das Paar nicht trennen können. Er grübelt und schreibt, sie lässt ihn und verdient das Geld – wie er rückblickend fast erstaunt bemerkt. Schließlich legen sie ihre Leben zusammen: Er kommt in Anstellung und sie erledigt einen Teil seiner Arbeiten. Nebenbei hilft sie ihm, zu sich und seinem Weg zu finden, vermittelt ihm Hoffnung und Lebenskraft und hat doch ihre eigenen Kreise und, ganz ohne seine Hilfe, eigene Ansichten und Werte. Letzteres merkt Gorz wieder mit ein wenig Verwunderung an.
André Gorz schreibt, was er aus heutiger Sicht vor einem halben Jahrhundert hätte über sie schreiben sollen, statt sie beiläufig und herablassend inmitten vieler gewichtiger Gedanken zu Politik und Philosophie nur entstellt zu erwähnen. Unter Selbstbezichtigungen stellt Gorz sich als dummen Tropf dar, der blind und verbissen nur an seine Arbeit gedacht hat und vermeint, darin die Erklärung für die damaligen Worte zu finden, die seit der Drucklegung nicht mehr zurückzunehmen sind.
Es ist das eine, von der Liebe zu schreiben, abstrakt und mit großen Worten. Das andere ist es, dem Leser in der „Geschichte einer Liebe“ ebendiese auch zu vermitteln. Aufrichtige Zärtlichkeit findet sich jeweils in einer Passage zu Beginn und Ende des Buches, welche sich nahezu gleichen. Ansonsten liest man eher von Dankbarkeit und Schuldgefühlen der Vergangenheit gegenüber und vieles bleibt im Unklaren: Als die Krankheit seiner Frau fortschreitet, schreibt er über sie, dass sie die meisten ihrer Lieblingsbeschäftigungen hätte aufgeben müssen. Diese Feststellung bleibt für den Leser wertlos, da er nicht wirklich davon erfährt, was sie gerne getan hat. Freilich, in ihrer Jugend hat sie Theater gespielt, dann hat sie ihm ein Archiv erstellt, ihn bei seiner Arbeit unterstützt, doch was sie sonst getan hat in all den Jahren und was davon gerne, das erfährt man nicht. So erscheint dieser Brief auf weite Strecken nicht als Liebesbrief, sondern als Rückschau auf das eigene Leben und Rechtfertigung vor seiner Frau.
Und endlich findet er zu Tönen, in denen Angst mitschwingt vor dem Verlust, vor dem Ohne-sie-Sein. Und endlich gibt es ein Wir, nämlich die gegenseitige Versicherung, dass beide ohne einander nicht sein möchten. Und die Erkenntnis, dass er wieder sein Leben mit ihr verbringen möchte. „Oft haben wir uns gesagt, dass wir, sollten wir wundersamerweise ein zweites Leben haben, es zusammen verbringen möchten.“
Am 23. September 2007 nahmen sich die schwerkranke Dorine Gorz und André Gorz gemeinsam das Leben.
André Gorz: Brief an D. – Geschichte einer Liebe
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Rotpunktverlag
Zürich, 2007
100 S. – 15 €
www.rotpunktverlag.ch
Kommentar hinterlassen