O Haupt voll Blut und Wunden

„Matthäuspassion“ im Centraltheater

EJNAR: Brand, Du bist krank!
BRAND: Jawohl, so krank
Wie dort die Kiefer rank und schlank; –
Nicht ich bin’s; rings um uns die Zeit, –
Sie ist’s, die, krank, nach Heilung schreit.
Ihr wollt nur Spiel und Spaß verstehn,
Vielleicht halb glauben, doch nicht sehn? (Henrik Ibsen: Brand)

„GOTT MIT UNS“ prangt schwarz glänzend auf mattem Schwarz. Eine Ansammlung von Stühlen: schwarz. Die restliche Bühne: schwarz. Der Zuschauerraum: stockfinster. Nur eine raumfüllende Stimme, welche alles Sehen und Gesehene als Traum innerhalb eines Traumes behauptet. Es ist ein Kirchenraum und im Dunkeln wird mit wenigen Gästen das Abendmahl gefeiert. Hostien, Wein und ein blasser Gemeindegesang. Der Pfarrer weist die Tür. Er kommt seinen Aufgaben offenbar nur pflichtmüde nach. Der Glaube hat ihn verlassen, als vor fünf Jahren seine Frau starb. Es ist „das Schweigen Gottes“, welches ihn mürbe gemacht hat.

So eröffnet die Matthäuspassion in der fast fünfstündigen Inszenierung von Sebastian Hartmann und der inhaltliche Bogen wird an dieser Stelle gespannt. In allen drei Teilen der Aufführung werden einerseits Angst und Schmerz, andererseits Einsamkeit und Zweifel thematisiert. Diese Aneinanderreihung dreier inhaltlich sehr verschiedener Stücke wird als Triptychon – was eigentlich dreiteilige Flügelaltäre bezeichnet – entworfen und so wie in den Altären eine zentrale Erzählung von Vergangenheit und Zukunft oder aber eine zentrale Figur (zum Beispiel Jesus) von Heiligen flankiert ist, so wird auch in diesem Passionsspiel detail- und verweisreich das Drama von Mensch und Glaube ausgebreitet.

„Es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.“ (Ingmar Bergman)

Zu sehen ist weder Frömmelei noch Ketzerei. Gut, es darf gelacht werden – über Götter und Teufel, über Gläubige, Zweifler und Abtrünnige, aber die Stimmungen wechseln schnell und Lächerlichkeit kann sich bei der immer wieder brachial einbrechenden Ernsthaftigkeit nicht einstellen. Zu sehen sind Bilder von erstaunlicher Größe innerhalb eines großen dunklen Ungewissen, die sich mit Filmästhetik zu messen suchen und – was selten gelingt – diesen Vergleich nicht scheuen müssen. Zu sehen ist eine faszinierende Körperlichkeit der Darstellung, und zwar weniger in der Nacktheit denn in einem einfallsreichen Spiel mit Gesten und Bewegungen. Zu hören sind Flüstern und Schreien, Ibsens Verse, Bibelzitate und Flüche, Musik von Bach zu Krach, von ABBA zu J.J.Johanson. Und es gibt zu fühlen. Oh, es gibt viel zu fühlen und zu denken. Und – wer kann – auch zu glauben.O Haupt voll Blut und Wunden,
Voll Schmerz und voller Hohn,
O Haupt, zu Spott gebunden
Mit einer Dornenkron,
O Haupt, sonst schön gezieret
Mit höchster Ehr und Zier,
Jetzt aber hoch schimpfieret,
Gegrüßet seist du mir! (Choral aus Bachs Matthäuspassion)

Neben den vom Schauspielhaus bereits bekannten Ensemblemitgliedern Matthias Hummitzsch, Barbara Trommer und Berndt Stübner bekommt man während der Matthäuspassion auch einen Eindruck des neuen Ensembles am Centraltheater. Und wenngleich einige Darsteller/innen in der neuen Spielzeit durchaus vermisst werden dürften (in eigener Sache: Heidi Ecks), so ist doch dieser Einstand zu triumphal, als dass man allzu nostalgisch werden könnte. Cordelia Wege ist als Märta in den Abendmahlgästen von bewundernswerter Vielseitigkeit, Henrike von Kuick besticht gleich mehrfach mit einer geradezu erschreckenden Ambivalenz zwischen Beseeltheit und Besessenheit und Peter René Lüdicke spricht und spielt mit einer Eindringlichkeit wie sie selten zu erleben ist. BRAND: Geht dort Dein Kirchenpfad?
Der führt ja nach dem wilden Grat.
[?]
GERD: Ja, nennt’s nur Fels- und Gletscherloch;
Das macht nichts; Kirche bleibt es doch. (Henrik Ibsen: Brand)

Nach der zweiten Pause kehrten einige Zuschauer nicht zurück. Aber es waren nur wenige. Ebenso wie die Buh-Rufe. Der Jubel war geradezu frenetisch, die Resonanz gigantisch. Als ob es einen Erlöser zu feiern gab. Aber es ist „nur“ ein neuer Intendant. Erstaunlich war der Jubel umso mehr, da von der Bühne schon allzu direkt gegen das Etablierte gewettert wurde, gegen das Bürgerliche, das Eingefahrene, das Opportune und Kleinliche. Es war keineswegs ein bequemer Einstand – im Hinterkopf hallten noch allerlei Streitereien um die Besetzung, den neuen Namen, die Preispolitik. Von der Bühne schallte es gar ungemütlich gen Publikum und nicht ins Leere. Aber es fühlten sich wohl die wenigsten angesprochen. Es perlte ab, denn es ist ja doch bei allen Formen – vom zerschmetterten Rotkohl bis zu Kunstblut und Nacktheit – doch „nur“ Kunst. Wenn man den OBM lässig mit der Kippe im Mundwinkel vor den Pforten plaudern sieht und Ex-Pfarrer Führer Standing Ovations gibt, so will man es fast glauben, dass Leipzig das Experiment wagen will und alles Offenheit und Kunstsinn ist in dieser Stadt. So recht glauben – und darum ging es ja – will man an den Burgfrieden nach den Debatten der letzten Wochen nicht. Der Kleinmut mit Anspruch auf Weltgeltung war doch allzu oft in letzter Zeit zu vernehmen. So ist es einerseits erfreulich, wie begeistert eine keineswegs unproblematische Inszenierung aufgenommen wurde, andererseits bleibt abzuwarten, wie lange sich der Jubel zu halten vermag zwischen Debatten um Radfahrverbote und Dienstreisen.AGNES: Steil ist der Weg, den Du ihr sannst.
BRAND: Zeig‘ einen bessern, wenn Du kannst.
AGNES: Leg‘ solch ein Maß, an wen’s auch ist,
Und sieh, ob’s auch nur einer misst. (Henrik Ibsen: Brand)

Es wäre allzu viel zu sagen, zu deuten und zu bedenken, auch einzuwenden bei und gegen und für diese Matthäuspassion. Doch aus jeder Szene spricht die Verweigerung, die der Nicht-Messias Christus zum Ende hin beschwört – keiner Gesellschaft angehören zu wollen, sondern einzig gegen den Status Quo zu opponieren, aus einer tiefsitzenden Unzufriedenheit mit und Verzweiflung an der Welt. Man könnte dies als eine kokette Geste deuten, als einen frivolen Willen zur Teilhabe am Sex-Appeal des Umstürzlerischen und Utopischen. Aber hier wird nicht nur – wie anfangs verlautbart – innerhalb eines Traums geträumt, sondern es wird bis zur Schmerzgrenze plastisch die Last der Bürde, die Berechtigung des Zweifels und der Verzweiflung, das Scheitern auf der Sinnsuche ausgestellt und vorgeführt, dass es kalt durch alle Glieder zieht. Die Romantik bleibt vor der Tür, wenn die Ideale auf die Wirklichkeit treffen. Und das ist die wirklich hervorragende Stärke des Ganzen. Tiefdunkel und schmerzensreich, down-to-earth und sky-high, lustvoll, spielerisch, komisch, …gewagt und gewonnen.

Matthäuspassion
Regie: Sebastian Hartmann
Auf der Bühne: Matthias Hummitzsch, Henrike von Kuick, Thomas Lawinky, Peter René Lüdicke, Emma Rönnebeck, Berndt Stübner, Barbara Trommer, Anita Vulesica, Arno Waschk, Cordelia Wege
Premiere: 18. September 2008
Centraltheater

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.