„Götterdämmerung“

Das Deutsche Nationaltheater Weimar vollendet eine bemerkenswerte Neuproduktion von Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“

Das kindliche Handpuppenspiel, mit dem zu Beginn des Rheingoldes unbekümmert die Zukunft befragt wurde, scheint vergessen. Inmitten einer (postmodernen) Welt, die sich beizeiten vom Vertrauen in eine ordnungsgebende, ja metaphysische Instanz verabschiedet hat, sind die Trauer tragenden Nornen nur mehr greise, überkommene Relikte. Der Schicksalsfaden ist ihnen längst gerissen, ihr Blick in die Zukunft letztendlich resignierende Erinnerung an das Gewesene und weckt bestenfalls das skeptische Interesse eines halben Dutzends pubertierender Grufties (im dritten Akt wird man erfahren, dass es sich um Wotans Raben handeln soll). Eins hat aber den Gang durch Zeiten und Welten in der Neuinszenierung der Götterdämmerung überdauert, mit der am Deutschen Nationaltheater Weimar nach zwei Jahren Richard Wagners Nibelungen-Tetralogie komplettiert wurde und sich der bisherige Operndirektor Michael Schulz als Intendant nach Gelsenkirchen verabschiedet hat: Machtstreben und ein Berauschen an der damit verbundenen Gewalt. Zwar hat sich Götter- und Übervater Wotan längst aus dem Alltagsgeschäft verabschiedet und den Untergang der eigenen Dynastie besiegelt, das im Rheingold bekräftigte patriarchalisch-autoritäre Prinzip, das bereits im Moment seiner Konstitution die folgenschwere Katastrophe erahnen lässt, bleibt dennoch unangetastet.

Dieses verheerende Spiel um die Macht, in dem jeder zu partizipieren versucht, dabei zum Täter und Opfer zugleich wird, macht in Schulz‘ Lesart auch nicht vor dem Paar halt, auf dem die letzte Hoffnung ruht, den auf dem Nibelungenring lastenden Fluch zu bannen: Mag auch die unlängst erweckte Brünnhilde den zu neuen Taten aufbrechenden Siegfried anfangs kaum ziehen lassen, so wird ihr der als Liebespfand überreichte Ring alsbald zum einzigen Lebensinhalt. Waltrautes Insistieren um die Rückgabe des Ringes an die Rheintöchter bleibt unerhört, vielmehr sieht sich Brünnhilde durch die sehnsüchtigen Blicke der übrigen Walküren – Schulz bemüht sie als gealterte Jungfern allesamt noch einmal zu einem stummen Auftritt – in ihrem vermeintlichen Glück bestätigt und steigert sich, den verkündeten Weltenbrand ignorierend, in Handgreiflichkeiten gegenüber der Schwester.

Bei Siegfried bedarf es hingegen nicht einmal eines Trankes, es genügt das trügerische Familienidyll am Gibichungenhof. Hier spielen die infantilen Gören Gunther und Gutrune (Alexander Günther und Marietta Zumbült verhelfen ihnen dennoch stimmlich zu Würde) mit vergoldeter Pappkrone und Hermelinmantel Prinz und Prinzessin, (Sozial-)Rollen, die ihnen einige Nummern zu groß sind. Der verhängnisvollen Weite des Plans, in dem sie vom Schattenkönig Hagen nur instrumentalisiert werden, können sie sich folglich gar nicht bewusst werden. Doch auch dieser ist – determiniert durch seine Geburt – nur Spielball des übermächtigen Vaters Alberich (Thomas Möwes hinterlässt einen gewohnt einprägsamen Eindruck), benötigt das Gefühl der eigenen Macht als Ersatzbefriedigung für seine emotionale Indisposition.

Indem Michael Schulz den Fokus auf die Figuren richtet, gelingt ihm die scheinbar unmögliche Quadratur des Kreises, Wagners monumentale Götterdämmerung als psychologisch nuanciertes Kammerspiel zu inszenieren. Kongenial wird er dabei von Dirk Beckers aufs Wesentliche reduzierte Bühnenbildern unterstützt: Eine Brechtgardine dient als Walkürenfelsen, ein schlichter, tiefer Raum mit Holzstuhl als Thronsaal, im dritten Aufzug genügt gar ein angeschrägtes Podest, um die Grenze des Illusionistischen zu verschieben. Einer Beschwörung des Mythischen wird ebenso wie einem historischen oder tagespolitischen Vergleich die Absage erteilt, stattdessen zeigt der Regisseur nuanciert, welche Folgen das Streben nach dem Ring und der damit gewähnten Macht auf Psyche und Verhalten der Handelnden auslöst. Seine Protagonisten motiviert Schulz zu ausgesprochener Spielfreude, zitiert dabei aus den vorangehenden Abenden der Tetralogie bekannte szenische (Leit-)Motive, Bilder und auch Figuren, so beispielsweise Brünnhildes Ross Grane, personifiziert in einer alten Frau (Erika Kramer mit unprätentiöser Präsenz) als treue Dienerin, stoisch-duldsame Zeugin und letztendlich auch Seelengeleiterin. Der Regisseur scheut neben allem Tragischen und Erhabenen weder komische noch banale Momente und führt somit die allzu zeitlosen Beweggründe des „zoon politikon“, das mehr vom Trieb als vom freien Willen gelenkt scheint, umso anschaulicher vor Augen. Einzig die von Hagen zur Doppelhochzeit herbeigerufenen Gibichungen als proletarischer paramilitärischer Mob wirken ein wenig überzeichnet, wozu Renée Listerdals sonst charakteristische Kostüme ihren Anteil beitragen. Obwohl aus allen Zeiten und Kulturen rekrutiert, erschöpft sich das urmännliche Prinzip hier in der plakativ gewaltsamen, sexuellen Unterdrückung des Weiblichen (der Bühnentumult hat leider auch hörbar negative Auswirkungen auf die musikalische Präzision des Chores).

Mit Brünnhildes Erkenntnis, dass Siegfried ihr den Ring entriss und für Hagen um sie warb, gelangt Schulz aber wieder zu seiner gewohnten Qualität, zitiert zu deren Racheschwur den Auftritt der Urmutter Erda aus dem Rheingold, die als stumme, resignierte Mahnerin erscheint. Offensichtlich zu spät, denn nach einem kurzen Umkippen der Machtverhältnisse wird rasch deutlich, dass offensichtlich auch das matriarchalische Prinzip keine gefahrenlose Alternative ist: Für ihren privaten Vergeltungszug instrumentalisiert Brünnhilde erst den ihr hörigen Hagen, dann den zaudernden Gunther, um mit ihm nach dessen Zustimmung vor den Augen des neiderfüllten Albensohnes nahezu orgiastisch den Akt zu vollziehen. Folglich dient Hagen Siegfrieds Ermordung, der von Wotans Raben auf den phallisch errichteten Speer gespießt wird, als triebbefriedigende, aber nur für den Moment effektive Ersatzhandlung. Nahezu erlöst legt sich Siegfried nach seinem Gruß an Brünnhilde zum Sterben nieder, bereits während des Trauermarschs, den alle Protagonisten scheinbar aus der Handlung getreten vom Bühnenhintergrund verfolgen, scheint eine allgemeine Anagnorisis einzutreten: Gunther streift seine Rolle, die er nie auszufüllen vermochte, noch vor seinem eigenen Tode ab, mit den Insignien ihres Bruders bannt die im Wahne gereifte Gutrune Hagen, der die eigene Machtlosigkeit – nicht zuletzt durch den verachtungsvollen Blick Alberichs – erkennend zusehen muss, wie die brüchige Ordnung nun vollends untergeht. Der Weltenbrand bleibt aber freilich aus: Brünnhilde erhebt während ihres Schlussgesanges Siegfried, beide verlassen erlöst die Bühne, die nun zögerlich von den erst noch ängstlichen, durch den einsetzenden Regen aber zusehends selbstbewusster werdenden Frauen bevölkert wird.

Mag dieses letzte Bild für die kathartische Kraft des Rheines vielleicht ein wenig zu versöhnlich, zu widerspruchslos sein, so haben Michael Schulz und sein Inszenierungsteam nichtsdestotrotz mit ihrer konsequenten und dabei äußerst kurzweiligen Deutung der Götterdämmerung einen aufsehenerregenden Ring geschlossen, der in seiner dramaturgischen Stringenz und szenischen Realisierung keinesfalls den Vergleich zu anderen gerade ent- oder bestehenden Produktionen von Wagners Nibelungen-Tetralogie scheuen muss. Musikalisch ist man ohnehin über alle Zweifel erhaben: Zwar hat sich Carl St. Clair, dem als wesentlichen Initiator des Weimarer Ringes die musikalische Leitung bisher oblag, mit Spielzeitbeginn als GMD an die Komische Oper Berlin verabschiedet, die Götterdämmerung ist aber auch beim Ersten Kapellmeister Martin Hoff in den besten Händen. Einzig im Vorspiel werden die ausgezeichneten Nornen (Christine Hansmann, Nadine Weissmann, Silona Michel) gelegentlich ein wenig vom Orchester übertönt, danach gewährleistet Hoff mit präzisem Schlag und äußerst sängerfreundlich stets die Kommunikation zwischen Bühne und Graben. Den schnellen Effekt ebenso wie falsches Pathos meidend führt Hoff die Staatskapelle Weimar, die trotz der fünfeinhalbstündigen Aufführungsdauer scheinbar noch nie etwas von Konditionsproblemen gehört hat, zu einem klug strukturierten, authentischen Wagner-Klang, der mitunter – analog zum Bühnengeschehen – von einer unerwartet kammermusikalischen Transparenz ist.

Innerhalb der Sängerriege gibt es zwischen den Rheintöchtern (silbrig homogen: Silona Michel, Susann Günther-Dißmeier, Christiane Bassek) und Siegfried (Norbert Schmittbergs eher baritonales Timbre lässt zwar ein wenig Glanz in der Stimme vermissen, seine Intonation ist aber tadellos und selbst in der hohen Lage nicht forciert) keinerlei Ausfälle, wohl aber einige Entdeckungen. Renatus Mészár gibt stets wohl intonierend einen dämonischen Hagen, findet aber stimmlich und szenisch immer wieder Zwischentöne, die auf dessen Schwäche und Verletzbarkeit hinweisen. Neben ihrer herausragenden zweiten Norn und der erschütternd stummen Erda überzeugt Nadine Weissmann mit ihrem sehr warmen, nahezu tremolofreien Alt als erst selbstbewusst kämpferische, letztendlich aber auch verzweifelte Waltraute. Unangefochtener Star der Weimarer Ring-Produktion ist aber Ensemblemitglied Catherine Foster, die nach Freia in der Rheingold-Premiere bereits in der Walküre und im Siegfried als Brünnhilde reüssierte. Auch in der Götterdämmerung verleiht sie mit beachtlich szenischer Präsenz und stimmlich unanfechtbar wieder sämtlichen Facetten dieser Figur, von der liebenden Gattin über die rasende Femme fatale hin zur erkennenden, selbstlos Handelnden, in jeder Hinsicht fulminant Ausdruck. Für eine Hochdramatische verfügt Foster über ein ausgesprochen jugendliches, mitunter annähernd lyrisches Timbre, meistert aber mühelos den Wechsel ins expressive Register, ohne je das geringste Zeichen der Anstrengung zu zeigen, sodass sie sich als Idealbesetzung erweist, die auch größeren Häusern zur Ehre gereichen würde.

Während andernorts nicht nur angesichts des anstehenden Jubiläums im Jahr 2013 die öffentlich ausgetragene Debatte über eine Neuausrichtung der Wagner-Rezeption beinahe zum Glaubenskrieg gerät, hat das Nationaltheater Weimar mit seinem höchst ambitionierten Ring erneut unterstrichen, warum es völlig zu Recht zum Thüringer Staatstheater ernannt wurde. Aber auch über die Grenzen des Freistaates hinaus sollte man sich diese Neuproduktion keinesfalls entgehen lassen. Neben den heiß begehrten Zyklen gibt es in der aktuellen Saison von jedem Werk noch Einzelvorstellungen, die Anreise nach Weimar lohnt allemal.

Richard Wagner: Götterdämmerung
Musikalische Leitung: Martin Hoff
Regie: Michael Schulz
Bühnenbild: Dirk Becker
Kostüme: Renée Listerdal
Dramaturgie: Wolfgang Willaschek
Choreinstudierung: Markus Oppeneiger
Deutsches Nationaltheater Weimar
Premiere: 5. Juli 2008
www.nationaltheater-weimar.de

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