Apokalypse und Vernichtung

Von zur Mühlens Inszenierung des „Fliegenden Holländers” provoziert einen Leipziger Theaterskandal

(Foto: Andreas Birkigt)

Der unsterbliche Holländer möchte sterben und ein Teil der endlichen Welt werden. Er, der verflucht ist, weil er aus Lust an der fanatischen Provokation und aus überschüssiger Lebensenergie in menschlicher Hybris in den gefährlichen Untiefen des Kaps der Guten Hoffnung segelte und dort fluchte und spottete, sucht nun selbst den Tod, die Erlösung von der Unsterblichkeit. Er sehnt sich nach gänzlicher Vernichtung – seit vielen ruhe- und rastlosen Jahrhunderten schon. Er ist dazu verdammt, endlos auf den Weltmeeren zu segeln. Nur alle sieben Jahre hat er für kurze Frist die Chance, ein Weib zu suchen, das ihn durch seine Treue und seine Liebe der heiß ersehnten, völligen Auflösung entgegenbringen kann. In der Zwischenzeit ist er – ähnlich wie Wilhelm Hauffs Holländermichel – dazu verdammt, Reichtümer anzuhäufen.

Solche düsteren Mythen wie die „nordische“ Sage um den Fliegenden Holländer beschäftigen die Dichter und Komponisten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zur Zeit des Vormärz. Wagners Oper oder Heines Szenario in seinen fingierten Memoiren des „Herren von Schnabelewopski“ sind Reflexionen tiefer gesellschaftlicher Verunsicherung, Obsessionen krankhafter Todessehnsucht, versprachlichte Ängste, wie sie die Menschheit seit Menschengedenken verfolgen. Es sind tiefenpsychologische Reflexe über den Tod, die aus diesen uralten Sagen sprechen. Diese von den Dichtern und Komponisten des Vormärz umgeformten Mythen verknüpfen sich mit düsterer romantischer Naturpoesie und gehen (wie z. B. auch im „Kalten Herz“) die wahlverwandtschaftliche Verbindung ein mit der erwachenden Industrialisierung, die wir h

eute, in diesem Augenblick in einer tiefen Krise, vielleicht sogar am Scheidewege sehen. Dieser Vormärz war die Hochzeit der Ästhetik der Draculas und Nachtwandler, der Wiedergänger und Magnetiseure, der Untoten und Zombies, die sich mit Apokalypse und Weltuntergangsphantasien einer bedrohlich im Umbruch befindlichen Gesellschaft profilierten.

Den ewigen Tod zeigt uns auch Michael von zur Mühlen, ein junger Mann Mitte zwanzig, in seiner Leipziger Neuinszenierung dieser Oper eines Achtundzwanzigjährigen. In einem Video von Stefan Bischoff sehen wir Zuschauer Schlachthausszenen und werden Augenzeugen der fabrikmäßigen Tötung von Rinderherden – minutenlang, dazwischen eingeblendete Dollarscheine. Die Todesschüsse knallen lautlos aus dem Film auf die Netzhaut der angewiderten Betrachter. Ist das ein Bild, das der Größe dieses Untergangsszenarios des Fliegenden Holländers würdig ist? Das Publikum jedenfalls fühlt sich provoziert. Reihenweise stehen die Menschen auf, pfeifen, rufen Buhs, „Film aus“, verlassen türknallend und schimpfend den Saal, sodass die Fortführung der Veranstaltung zeitweilig gefährdet ist. – Tja, so etwas hat es in der Oper Leipzig lange nicht gegeben.

Auch der Seemanns-Chor muss sich geißeln, reißt sich die Kleider vom Leib und straft sich selbst mit unerbittlichen Peitschenhieben. Der Steuermann Dalands erregt sich derweil phallisch in purer Fleischeslust während ein nacktes Peep-Girl (Peggy Plätzer) ihre pralle Oberweite präsentiert und durch die Zuschauerreihen tänzelt. Senta wäscht ihre Hände nicht in Unschuld, sondern taucht sie in Blut. Der Chor der Spinnerinnen wird zum Chor der Fleischerinnen, die ihre blanken Messerchen wetzen, um Schabefleisch zu produzieren. Wir blicken in blutverschmierte Gesichter. Blutverkrustete schmutzige Wäsche stapelt sich auf der Bühne. Die Gespenster kommen schließlich in der Gestalt einer marodierenden Jugendgang auf die Bühne gestürzt, übergießen sich mit Pech und Schwefel und zerhacken die Bühne, bis nur noch Kleinholz übrig bleibt. Ein weiteres Video belehrt uns Zuschauer schließlich darüber, wie die grölende Meute zombiehafter Zerstörer auf den Augustusplatz ausschwärmt, ein Auto in Brand setzt, dann eine Drogerie in Schutt und Asche legt und randalierend in der Osthalle des Hauptbahnhofs verschwindet, um von dort aus die Zerstörung in die große weite Welt hinauszutragen. Senta gibt sich inzwischen mit einem fulminanten Knall als Schlussakkord die goldene Kugel, von einem Liebestod kann hier beileibe keine Rede mehr sein. Doch damit ist noch lange nicht Schluss. Den fliehenden Zuschauern werden auf dem Augustusplatz noch bedrohliche Weltuntergangsprophezeiungen über zwei Megaphone hinterhergebrüllt: Eine Zitatcollage aus Wagners revolutionärer Prosa.

Also Multimedialität an allen Ecken. Michael von zur Mühlen ist sichtlich darum bemüht, die Fackel der Provokation zu entfachen und sie mit dem Ziel eines Flächenbrandes mitten in das Publikum zu werfen. Das ist nach den braven und biederen Wagner-Premieren unter der Ära Maier wahrhaft starker Tobak und das, was man gemeinhin einen unsanften Übergang nennt. Das Bühnenbild (Natascha von Steiger) zeigt eine amerikanische Miniaturmetropole, auf deren Highways die Sänger wie in einem Affenkäfig herumklettern, eingefaßt von Holzmauern. Fortwährend tauchen Versatzstücke des Kapitalismus auf der Bühne auf: der Europa-Stier als Goldenes Kalb, eine goldene Kette, eine pralle Geldkatze, Dollarnoten, Börsenmeldungen aus dem Fernsehen auf Video. Es geht um Geld, Einfluss, Macht, Zerstörung. Redlich bemüht sich das sängerische Personal das Beste zu geben. Großer Applaus für die hervorragenden Leistungen von Chor und Ensemble und das Gewandhausorchester unter Leopold Hager, der kurzfristig für Axel Kober eingesprungen ist. Doch um die Musik geht es an diesem Abend kaum, im Mittelpunkt stehen die Bilder, die darauf angelegt sind, mit aller Kraft im Gedächtnis haften zu bleiben – zu provozieren.

Wir haben es hier mit einer Inszenierung zu tun, die extrem lebensfeindlich eingestellt ist. So jedenfalls wirken die buchstäblich mit dem Todesholzhammer der Schlächter an die Wand geworfenen Bilder, die sie provoziert. Es geht um die in dieser Genreoper Wagners bereits musikalisch angelegte Sehnsucht nach ewiger Vernichtung, die Michael von zur Mühlen in den Mittelpunkt seiner Lesart stellt. Wohin jedoch soll es führen, wenn wir in öffentlichen Räumen derart in solchen Obsessionen schwelgen? Das Problem besteht darin, dass Michael von zur Mühlen diese Apokalypse als Vernichtungsorgie und Selbstinszenierung feiert, ohne sie als Spannungsproblem mit einer Gegenseite zu zeigen. Eine solche wird an diesem Abend nicht sichtbar. Das hängt vor allem damit zusammen, dass er mit der schwierigen Figur der Senta nicht zurechtkommt, die in dieser grausamen Holländerwelt der Lichtpunkt sein könnte. Das Geheimnis der Oper ist jedoch Senta, eine neue Frauenfigur, wie sie bis dahin in der Geschichte der Oper unerhört war. Senta, die sich dem Wahnsinn nicht länger ausliefert, sondern dem Verfluchten opfert, um es zu erlösen, wird bei Michael von zur Mühlen eine Witzfigur, die wie eine Wahnwitzige über Zuschauerreihen klettert und sich – kein Witz – in einer Duschkabine langweilt.

Über weite Strecken stehen die Bühnenfiguren andererseits tatenlos umher, eine öde Langweile wird provoziert, von der man sich fragt: Was soll das Ganze? Ist dies nur die aus der Lokalpresse im Vorfeld der Premiere breitgetretene Weigerung der Sänger, Michael von zur Mühlens Ideen in die Tat umzusetzen, die Sabotage, von der der Regisseur im Gespräch auf der Premierenfeier spricht? Oder ist dies Teil seines Programms? In der ausgeführten Version jedenfalls entsteht keine zweite Ebene, die von dem hohen Reflexionsniveau zeugt, das der beratende Dramaturg Carl Hegemann in seinem ebenso frag- wie diskussionswürdigen Programmbeitrag bringt.

Mühlen entgleiten die Bilder, die er als Metaphern der gebeutelten Moderne einsetzen will, sichtlich unter seinen Händen. Die endlosen Hundekampfszenen auf der Videoleinwand, die nackte Frau und der nackte Mann auf dem Video, die unendlich viele Male aufeinander zurennen und aneinanderprallen oder aneinander vorbeilaufen, sind allzu deutliche Aussagen. Solche Bilder ohne weitere Ebene, solche überdrastischen Illustrationen wirken einfach nur plakativ und künden nicht von der Tragweite des schwerwiegenden Problems, das wir Menschen mit dem Problem des Todes und dem Leiden an der modernen Welt haben. Es fehlt dem Regisseur an Feingespür und Empathie, er ist sich der Schwere des Lebens im Chaos, der tatsächlichen Folgen, die Zerstörung nach sich zieht, nicht hinreichend bewusst. Die modernen, um ihrer selbst willen provozierenden Inszenierungsmittel wie das Leitmotiv der Zombies und die Anspielungen auf das Genre des Zombiefilms können nicht das Ziel einer Inszenierung sein, wenn dieser Form wie hier ein tieferer, klug reflektierter Inhalt fehlt. Denn der zum Teil fanatische Satanismus dieser Inszenierung huldigt einer einseitigen Sicht und wirkt damit radikal und platt. Die Botschaft Schopenhauers, auf die man sich im Programmheft beruft, wird durch diese Einseitigkeit völlig verkannt, denn Schopenhauer geht es um die Doppelaspektivität des Seins: der Willen zum Leben und der Willen zur Vernichtung zugleich. Der Tod, die radikale und absolute Sehnsucht nach völliger Vernichtung, ist nur die eine Seite des Lebens, der eine zweite, ebenso starke und wichtige gegenübersteht.

Das hier gezeigte Bild vom Untergang ist wie alle Kunst, die sich derart vom Leben abwendet und die Menschen aller ihrer Hoffnungen beraubt, verantwortungslos. Wir sollen, um sinngemäß mit Thomas Mann zu sprechen, „lebensfreundlich“ sein, „obwohl wir vom Tode wissen“. Das Spiel mit dem Gedanken an absolute Vernichtung, mit dem Massaker der Lebenszerstörung und Zerfleischung ist deshalb menschenverachtend, weil es dem Menschen nicht gegeben ist, in dieser Weise über die letzten Dinge zu richten.

Es gibt in Zuckmayers „Des Teufels General“ eine bemerkenswerte Stelle, die dieses Problem auf den Punkt bringt. Der General sagt darin, dass wir Menschen viel dazu beitragen, „die Welt zu versauen“. Angesichts des Zweiten Weltkrieges, in dem die in dieser Inszenierung wiedererweckte Vernichtung ihre bisher grausamste Ausprägung in der Geschichte erfahren hat, gewinnt dieser Satz an unerträglicher Schwere und Gewicht. Doch dann folgt der Gedanke: „Doch wir kommen nicht an gegen das ursprüngliche Konzept.“ – Ein Blick in ein Kinderauge, ein Sonnenaufgang, selbst die Vorstellung einer Ratte in einer menschenlosen Welt, die ihre Jungen aufzieht, zeugen vom Willen der Natur zum Leben. Sollte es anders sein, wie uns diese Inszenierung glauben machen will? – Die Hoffnung stirbt zuletzt. Da ist etwas in uns, das sich mit vollem Recht weigert, die Zerstörung als letzte Wahrheit anzuerkennen. Oder wie es Schopenhauer formulierte: „Dem Willen zum Leben ist das Leben gewiß.“

Richard Wagner: Der fliegende Holländer
Musikalische Leitung: Leopold Hager
Inszenierung: Michael von zur Mühlen
Bühne: Natascha von Steiger
Video: Stefan Bischoff
Gewandhausorchester
Chor der Oper Leipzig
Mit James Moellenhoff, Edith Haller,
Susan Maclean, Dan Karlström, James Johnson
Oper Leipzig

Eine Stimme zur nächsten Aufführung:

22.11.2008
„Der Fliegende Holländer“ oder Viel Lärm um nichts – Die erste Vorstellung nach dem „Skandal“ (Ingo Rekatzky)

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