Zwischen Ironie und Melancholie

„Ich weiß nicht wieso ich Euch so hasse“: Theaterrock mit Tocotronic im Centraltheater

Anders als Bands wie Blumfeld, Die Sterne, Cpt. Kirk &., Huah! oder Die Goldenen Zitronen, die der ersten Generation der viel zitierten „Hamburger Schule“ angehörten, haben Tocotronic nie für den Umsturz der Verhältnisse plädiert. Angesichts einer bereits zu Beginn der Neunziger sich abzeichnenden Neoliberalisierung der pekuniären und psychosozialen Verhältnisse, auch und gerade im Bereich der damals noch florierenden Musikwirtschaft, ging die Generation, der Tocotronic entstammten, von der Unhintergehbarkeit des Kapitalismus und – bezogen auf den von ihnen bespielten Gesichtskreis einer zunehmend industrialisierten Jugendkultur – der Universalität des Brandings aus. Die Teilhabe an Rock, mitsamt seinem mythischen Überbau und seiner weltumspannenden Festivalkultur, war nur noch als Farce denkbar, der man sich abwechselnd im Modus der Ironie oder der Melancholie nähern konnte.
(Christoph Gurk)

Es klingelt zum dritten Mal und alles sitzt brav auf den Plätzen, als ein paar Glückliche nachströmen, die noch Stehplätze für die seit Wochen ausverkaufte Show ergattert haben. Aber stehen war sowie bald angesagt. „Ich weiß nicht wieso ich Euch so hasse“, waren die ersten Worte des Abends, doch was folgte, war keine Publikumsbeschimpfung, sondern ein berauschendes Konzert. Beim zweiten Song fangen die ersten Jungs an zu zappeln und Mädchen singen „Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen“ mit. Wenig später steht alles Freude taumelnd in den Reihen. Ein paar demonstrative Verbrüderungen mit Drummer Arne Zank („Ihr könnt ruhig sitzen bleiben. Ich sitz ja auch die ganze Zeit.“) gab es dann aber doch.

Es war ein Abend der theatralen Gesten mit von Lowtzow in der Hauptrolle, der sich selbst gab, nur stark überzeichnet. Er stöhnte, schrie, seufzte und hob die Faust zum Gruß der anwesenden „Genossen und Genossinnen“. Das Publikum lag ihm zu Füßen – wie immer. „Ich will ein Kind von dir“, schreit ein Mann und Dirk erkundigt sich nach dem Stand in Sachen Homo-Ehe in Sachsen. Apropos Liebesbekundungen, Imitationen von dir widmete man dem Hamburger Schriftsteller Hubert Fichte. Und Musikkurator Christoph Gurk, seines Zeichens Ex-Spex-Chefredakteur und lange Zeit Dramaturg der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin, wurde ausführlich in seiner neuen Rolle als „der Impresario“ gepriesen. Zu Recht, immerhin hat er die Tocos fernab von Tour oder Albumrelease dazu bewegt, nach Leipzig zu kommen (wie übrigens auch Peter Licht und demnächst das PopUp Highlight aus diesem Jahr: Gustav). Zwar gilt Gurk als Entdecker der Band, weil er vor 14 Jahren ein erstes Interview in der einschlägigen Jugendkulturpresse veröffentlichte, verwunderlich ist es dennoch.

Letztes Jahr feierten Tocotronic noch im Conne Island mit obligatorischem Antifa-Aufschlag die Kapitulation. Nun präsentieren die vier Herren Theaterrock für Salonkommunisten. „Die Kapitulation ist vorbei und morgen beginnt eine neue Ära“, verkündet Dirk von Lowtzow dem raunendem Publikum. Neue Stücke gab es aber leider nicht zu hören und die Zeitenwende blieb im Dunkeln. Mit Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit als finales encore gab es dafür eins der ersten Tocotronic-Lieder überhaupt – oder vielleicht doch einen Wink in Richtung Zukunftsmusik? Wer weiß.

Tocotronic

17.10.2008, Centraltheater

www.schauspiel-leipzig.de

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