Diskursrock in Zeiten der Finanzkrise

Kettcar unterhält in der Centralstation Darmstadt

Mal eines vorweg: Die neue Tomte ist Mist und Sticker auf dem Album hilft da auch nicht. Und noch was: Kettcar waren auf der aktuellen Tour zum grandiosen Album Sylt schon in Leipzig, am Abend vor dem Termin in der Darmstädter Centralstation noch in Dresden, das war’s jetzt erstmal für dieses Jahr. Warum über ein Konzert von Kettcar in Darmstadt schreiben? Weil Kettcar das wahrscheinlich beste deutschprachige Indie-Rock-Album dieses Jahr vorgelegt haben und weil – vor dem Hintergrund einer sich nicht beruhigenden, in immer neue Tiefen vorstossenden Finanzkrise – an diesem Abend in Darmstadt und entsprechender Nähe zum Finanzplatz Frankfurt, ein gepflegter Abgesang auf den Turbokapitalismus vollzogen wird.

Money left to burn

Wer sich an diesem Abend auf Nachfrage von Kettcar im Publikum als Frankfurter zu erkennen gibt, darf erst mit Spott und später mit Mitleid rechnen – man hat es halt immer gewusst, irgendwann musste die Blase platzen. Kettcar aus Hamburg machen seit über sechs Jahren den Sound zum Sich-im-Leben-Einrichten, Hausbauen, Familie gründen, Geld anlegen, und darüber Kritisch-Reflektieren – dies musikalisch eingängig und mit textlicher norddeutscher Kühle, die eine wachsende Fanschar produziert. Der dritte Longplayer Sylt aus dem Frühjahr nimmt inhaltlich vorweg, was wir heute tagtäglich aus den Medien bis zum Erbrechen vernehmen: Der Boom ist vorbei, es heisst wieder Zusammenrücken – schwierig, wenn man sich so daran gewöhnt hat, von Erfolg und Geld getrieben und sozial weitgehend ungebunden durchs Leben zu gehen. Sylt als Synonym für diese ganze Noblesse und unbegründete Arroganz, die einem Grossteil des hier anwesenden Publikums verhasst sein müssen – Kettcar haben schon immer ein Gespür dafür gehabt, in ihren Texten einprägsame Metaphern für das – mit Adorno – falsche Leben postmoderner Prägung zu finden. Dies verpacken sie musikalisch in sehr eingängige, teils düstere Akkorde, die mit einem Hauch von Elektronik unterlegt sind. Das goutieren die Fans – textlich Anspruchsvolles muss nicht noch durch musikalische Komplexität verschärft werden.

Du kannst mich an der Ecke rauslassen

Das gesamte Programm des Abends steht unter dem allgegenwärtigen Motto von Verfall und Krise – allein die Botschaft ist: Es kommt darauf an, was Du daraus machst. Niels Frevert, der mit seiner Band den Aufwärmer geben darf und dies ordentlich macht, hat schon zu Nationalgalerie-Zeiten gerne und viel über sympathische Loser gesungen. Was diese Haltung betrifft, bleibt er sich gerne treu, liebt es musikalisch inzwischen etwas ruhiger und singt vom „Typ, der nie übt“, aber auch von Tagen, da die Menschen in Schlangen vor den Bankfilialen stehen, um ihre Einlagen abzuheben. In der Provinz ist die Welt noch in Ordnung, während man eine halbe Zugfahrt gen Norden ganz andere Probleme hat. Die Darmstädter Centralstation belacht das Fußvolk der Finanzindustrie, das vor lauter wertloser Collateralized Debt Obligations des Nachts keinen Schlaf mehr findet.

Ich danke der Academy

So ist der Opener des anschließenden Auftritts von Kettcar, „Deiche“ aus dem 2005er Album Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen, an diesem Abend Mahnung und Prophetie zugleich: „Nur weil man sich so dran gewöhnt hat / Ist es nicht normal“ – kann sich mal der ein oder andere 25jährige Investmentbanker auf der Zunge zergehen lassen – und natürlich: „Deiche brechen richtig / Oder eben nicht!“ Sänger Marcus Wiebusch macht bei seinen Ansagen keinen Hehl daraus, dass man heute lieber in Darmstadt auftritt als in Frankfurt – im Laufe des fast zweistündigen Sets, das alle gern gehörten Stücke inklusive der Hamburg-Hymne „Landungsbrücken raus“ und zudem viel Material vom aktuellen Album versammelt, fühlt sich der Zuhörer wie im Soundtrack zur Finanzkrise und deren zahlreicher Kollateralschäden im Beruflichen wie Privaten. Viele zerplatzte Träume werden hier besungen und „befindlichkeitsfixiert“ war und ist wohl auch so mancher Hedge Fonds Manager, um den es nun plötzlich einsam wird.

Das von der Band auf dem aktuellen Album apostrophierte „Nullsummenspiel“ des Lebens erfährt in diesen Sonntagabendstunden in der hessischen Dichterprovinz eine willkommene Aufwertung. Am kommenden Morgen werden wieder fallende Kurse, Leerverkäufe, kriselnde Industrien und drohende Rezession die Schlagzeilen bestimmen – dass all diese Nachrichten zyklisch immer wiederkehren und mit guter Musik ein Stück weit besser auszuhalten sind, ist wohl die wesentliche Erkenntnis dieses Konzert-Abends mit Kettcar.

26. Oktober 2008, Darmstadt, Centralstation

www.kettcar-musik.de

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