„Verkehrung des Solidarprinzips“

„Von ‚Neuer Unterschicht‘ und ‚Prekariat'“ heißt das neue Buch, das Die AG SchwerPrekär herausgegeben hat. Im Gespräch erklärt die Gruppe, was es mit den Begriffen auf sich hat.

Die AG SchwerPrekär lud 2007 zu einer Reihe von Vorträgen, die den Umbruch der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Thema hatte. Um einige Beiträge erweitert, sind diese in einem Sammelband erschienen.

Leipzig-Almanach: „Neue Unterschicht“ und „Prekariat“ – Was veranlasste Sie, sich mit diesen Begriffen zu beschäftigen?

AG SchwerPrekär: Es gab 2006 zwei diskursive Ereignisse in der sozialpolitischen Debatte. In einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung tauchte der Begriff „abgehängtes Prekariat“ auf. Und Kurt Beck forderte einen Erwerbslosen auf, sich zu rasieren, dann fände er wieder Arbeit. An diesen Ereignissen wurde deutlich, was vermutlich schon länger eher implizit in der Gesellschaft gedacht wurde und bisher keiner öffentlich ausgesprochen hat. Diese neue Debatte galt es zu hinterfragen.

Leipzig-Almanach: Was ist falsch an der Bezeichnung „Unterschicht“? Ist es nicht besser, einen existierenden Missstand zu benennen, anstatt ihn zu deckeln?

SchwerPrekär: Der Begriff impliziert unglaublich viel, weshalb er sich nicht kontextfrei verwenden lässt. Die Art, wie gegenwärtig über die „Unterschicht“ geredet wird, verknüpft kausale und kulturelle Zuschreibungen, die kein Aufmerksammachen auf dahinter stehende Ungerechtigkeiten beinhalten.

Leipzig-Almanach: Was macht den Begriff so problematisch?

SchwerPrekär: Es wird nicht mehr von materieller Armut ausgegangen, sondern von Armut im Geiste. Die betreffenden Menschen werden als Angehörige einer selbstverschuldeten Kultur der Unbildung dargestellt. Nach der Verantwortung der Gesellschaft wird dann nicht mehr gefragt. Stattdessen: Was muss das Individuum tun, damit es sich selbst verbessert und integriert werden kann. Das ist eine Verkehrung von Ursachen und des Solidarprinzips.

Leipzig-Almanach: Ist deshalb „Prekariat“ angemessener?

SchwerPrekär: Ja und Nein. Zunächst muss man klären, was damit jeweils gemeint ist. Das Prekariat ist stark mit der „Generation Praktikum“ gekoppelt. Da jammern häufig jene am lautesten, denen es temporär schlecht geht, die aber über eine bessere Zukunftsperspektive als andere verfügen. Diese müssen auch gehört werden. Es gilt, eine gemeinsame Sprache und Kommunikationsräume zu finden, wo sich Unterschiedliches wie Gemeinsames artikuliert. Das gab es ein Stück weit bei den Demonstrationen gegen Hartz IV – so kritisch man sie betrachten muss – auch in Leipzig.

Zum Buch: Von „Neuer Unterschicht“ und „Prekariat“

Die Vorurteile über die „Unterschicht“ sind allbekannt: asozial, ungebildet, faul sind nur einige Beispiele. Diesen Zuschreibungen gehen die 14 Beiträge des Bandes nach, der aus zwei inhaltlichen Schwerpunkten besteht. Im ersten Teil wird gefragt, wie bestimmte Begriffe die Vorstellungen von Gesellschaft dirigieren und welche Machtverhältnisse in diesem Kontext wirken. Die Suche nach neuen und adäquateren Konzepten, das soziale Gefüge zu beschreiben – ohne Zumutung für die Subjekte und mit Möglichkeiten der Emanzipation – bestimmt den zweiten Teil. Dabei argumentieren die eingenommenen Perspektiven vor sozialwissenschaftlichem, praktischem sowie künstlerischem Hintergrund.

Claudio Altenhain et al. (Hg.): Von „Neuer Unterschicht“ und „Prekariat“
Transcript – Bielefeld 2008
S. 234 – 24,80 €
Kontakt & Buchbestellung: schwerprekaer@engagiertewissenschaft.de

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