Contrapunctus

Georg Christoph Biller dirigiert Bachs Johannes-Passion in der Thomaskirche

1. Thema: Am Karfreitag 1724 wurde die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach erstmals in der Thomaskirche mit den Thomanern aufgeführt. Wenn man fast auf den Tag genau 185 Jahre später am selben Ort sitzt und die Thomaner dasselbe Werk wieder aufführen, ist das ein magischer Moment. Unwillkürlich neigen sich die Ohren zu dem alten Gemäuer hin, um zu erlauschen, ob sich die Steine vielleicht wiedererinnern und sich ihre Eindrücke unhörbar zuraunen.

2. Thema: Nachdenken über Bach in Leipzig bedeutet, sich einzugestehen, dass die Neuerungen in der Aufführungspraxis der barocken und insbesondere der Bachischen Musik fast ausnahmslos nicht in Leipzig erfolgt sind. Der Art, wie die Thomaner in den letzten Jahrzehnten die Musik ihres berühmtesten Kantors aufführten, haftete oft etwas Biederes an. Und so schaute Leipzig nicht selten neidisch auf jene Orte, an denen Musiker wirkten wie Herreweghe, Rilling und wie sie noch alle heißen.

3. Thema: Zu Beginn der Aufführung bittet Pfarrer Wolf darum, hinterher nicht zu klatschen. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Aufführung der Passionsmusiken um den Karfreitag herum weniger als ästhetisches, denn vielmehr als religiöses Ereignis verstanden werden soll.

4. Thema, eine historische Anmerkung: Bach verspottete nicht selten (zum Beispiel in Gegenwart seiner Söhne) den zu seiner Zeit in Mode gekommenen Opernstil. Bach selbst hatte keine Oper komponiert. Aber die Passionsmusiken erinnern von der Form her an die opera seria. Bach hat in ihnen die unterhaltsame Form der damaligen Musikmode auf ein religiöses Genre übertragen und ihr damit eine neue ästhetische Bedeutung gegeben.

5. Thema, eine unhistorische Anmerkung: Der alte Streit, ob die Matthäus– oder die Johannes-Passion das bedeutsamere Werk Bachs sei, muss mit jedem Aufführungserlebnis neu entschieden werden.

1. Contrapunctus: Unwillkürlich muss ich, ob ich will oder nicht, die Johannes-Passion in der Thomaskirche mit den Aufnahmen vergleichen, die ich mir immer wieder zu Hause anhöre. Das macht ein unvoreingenommenes Hören fast unmöglich. An diesem Donnerstagabend fällt mir auf, dass die Solisten ganz anders singen als diejenigen, die sich auf Alte Musik spezialisiert haben. Wenn ich ein Wort dafür finden soll, würde ich ihren Gesang „opernhaft“ nennen. Das ist für den Augenblick ungewohnt, doch mit der Zeit berührt mich diese Art des Singens immer mehr. Die Vorträge sind eindringlich, unglaublich bildhaft und auf unmittelbare Weise wirksam. Fast naturalistisch klingt es, wenn der Tenor besingt, wie sich nach dem Tod Jesu die Sonne in Trauer kleidet, der Vorhang reißt und der Fels zerfällt. Ergreifend sind die Altus- und die Bass-Arien, vor allem wenn sie sich mit dem Chor vereinen, dessen zarte Einwürfe wie Flügelschwingen die Schwermut leicht machen und ins Licht heben. Wie eine Nachtigall klingt es, wenn der Sopran sein „Herz zerfließen“ lässt und „dem Himmel die Not“ erzählt: „Dein Jesus ist tot!“ Und vor allem beeindruckt der Evangelist immer wieder. Nicht in erster Linie durch reinen und stilsicheren Ton, sondern durch seinen vielgestaltigen Rollenwechsel, seine unglaubliche Lebendigkeit und Beweglichkeit, mit der er den Hörer immer wieder ins Geschehen verstrickt und ihn so in die Dramatik des Geschehens mit hineinzieht.

2. Contrapunctus: In dieser Aufführung gelingt es mir nicht – und das liegt nicht an den gewohnt harten Bänken der Thomaskirche -, mich zurückzulehnen und die Musik zu genießen. Ich finde an diesem Abend keinen Moment, in dem ich mich ganz einfach der musikalischen Stimmung hingeben und mich in ihr verlieren könnte. Die stets gegenwärtige Dramatik des Geschehens zwingt mich zur unaufhörlichen Aufmerksamkeit, lässt ein Abirren der Gedanken nicht zu und ein „romantisches Hören“ (gibt es eine Analogie zum „romantischen Glotzen“?) schon gar nicht. Und mit einem Mal hab ich das Gefühl, den denkbar authentischsten Bach zu hören. Mit einem Mal glaube ich zu wissen, was Bach am Karfreitag 1724 bei seinen Hörern bezweckt hat. Es ging ihm nicht um die Demonstration seiner musikalischen Kunst; es ging ihm prinzipiell nicht um musikalische Erbauung. Bach stellte seine Musik (und dazu gibt es bekanntlich einen sprichwörtlich gewordenen Ausspruch von ihm) ganz in den Dienst des Religiösen. Im konkreten Fall bedeutet das, dass die Musik der Johannes-Passion das biblische Geschehen unterstützt, es für den Hörer plastischer und emotional stärker erlebbar macht, aber keine eigenständige Dimension beansprucht. Die musikalische Formensprache ist folglich zweitrangig gegenüber dem szenischen Gehalt, deshalb ist auch die Form der Oper mit dem Wechsel von Rezitativ und Arie hier vollkommen angebracht.

3. Contrapunctus: Ich glaube, heute habe ich den authentischen Bach gehört. So, wie diese Musik wirken sollte damals, hat sie heute wieder auf mich gewirkt. Unabhängig von allen Stilfragen und von allen Fragen zur Aufführungspraxis Alter Musik. Und nebenbei hab ich die Frage nach dem Wert von Matthäus– und Johannes-Passion beantwortet bekommen. Die Matthäus-Passion ist um vieles artifizieller als die Johannes-Passion. Diese ist dafür in ihrer Erlebnishaftigkeit unmittelbarer und direkter. Teilweise richtig naturalistisch. Sie ist mehr ein religiöses Werk, die Matthäus-Passion dagegen eine musikalische Vollendung des barocken Makrokosmos der Musik. Beide sind unter einer völlig anderen ästhetischen Prämisse zu verstehen und daher muss man sie – gottlob – nicht miteinander vergleichen.

4. Contrapunctus: Der Thomanerchor muss natürlich noch eigens erwähnt werden. Es ist immer wieder ein Genuss, ihn zu hören. Auch heute war es beglückend, die Polyphonie mit einer solchen Reinheit der Stimmen und mit einer solchen Leichtigkeit in allen Höhen zu erleben. Manchmal kommt noch Innigkeit dazu und manchmal entstehen reißende Ströme, die sich aus vielen Nebenarmen speisen. Die Choräle werden im volksliedhaften Ton gesungen und auch das scheint mir authentisch. Vielleicht haben damals die Menschen wie bei den Kirchenliedern aus dem Gesangbuch mitgesungen? Ich könnte mir das selbst heute noch gut vorstellen. Das wäre doch ein wirklich lebendiger Protestantismus, der durch Bachs Musik inniger und sinnlicher wäre als er es gewöhnlich mit all seinen trockenen Predigen und seinen vergessenen Ritualen ist.

5. Contrapunctus (Finale): An diesem Abend geh ich mit einer tiefen inneren Zufriedenheit nach Hause. Sie ist ästhetischer und religiöser Natur und auch mein Denken, dem diesmal keine Pause vergönnt war, ist für einen Moment demütig und zurückhaltend geworden.

Johann Sebastian Bach: Johannes-Passion

Dirigent: Georg Christoph Biller
Sopran: Sibylla Rubens,
Altus: Matthias Rexroth
Tenor: Maximilian Schmitt,
Bass: Friedemann Röhling & Gotthold Schwarz
Thomanerchor / Gewandhausorchester

9. April 2009, Thomaskirche


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