„Ich habe genug“

Ein heiteres und ein verzweifeltes Ich habe genug

Der Glaube an Gott ist in den westlichen Gesellschaften nach und nach vom Glauben an den Fortschritt verdrängt worden. Solange das „Höher, schneller, weiter“ funktionierte, war das auch ein hinlänglicher Ersatz. Es war, muss man sagen, denn seit wir uns alle den Zusammenbruch der westlichen, auf Fortschritt gebauten Strukturen ansehen dürfen, mehren sich die Zweifel daran, und manch einer hat sich gar mit einem „Ich habe genug“ aus diesen Strukturen verabschiedet. Den großen Religionen verdanken wir unsere moralischen, kulturellen und spirituellen Werte. Diese Werte bleiben auch ohne den Glauben, sie sind fester Bestandteil unserer Ordnungen. Was aber bleibt vom Glauben an den Fortschritt übrig? Kann man ohne Glauben überhaupt existieren? Solche und ähnlich Fragen werden im ersten Teil des Bach-Jelinek-Abends von Peter Konwitschny aufgeworfen. Der Chefregisseur der Oper Leipzig beweist damit ein seismografisches Gespür für Fragen, die sich hinter aktuellen Entwicklungen verbergen, Fragen von denen man sich nur zu gern vom Tagesgeschäft ablenken lässt. Fragen, die sich beispielsweise aus der Äußerung des ehemaligen Londoner Bürgermeisters Ken Livingston ergeben, man sollte doch jede Woche einen Banker erschießen, bis die anderen sich besinnen.

Bachs eher kurze Kantate Ich habe genug besteht nur aus drei Arien und zwei Rezitativen und doch ziehen durch die Kantate alle Register menschlicher Todessehnsucht. Bariton Dietrich Henschel ist bekannt als Konwitschnys Don Giovanni in seiner erfolgreichen Berliner Inszenierung. In Leipzig erleben wir ihn als gestressten Manager. Er singt, weint, lacht und schreit. Die Musiker der Sinfonietta Leipzig werden verzweifelt mit Kissen attackiert. Plastisch zeichnet er den menschlichen Weg von der Erstarrung zur Lebensfreude. Das eindringliche „Ich freue mich auf meinen Tod“ gerät zum gemeinsamen Tanz mit den Musikern, welche der fast 300 Jahre alten Musik einen versöhnlichen Groove entlocken. Das ist flüssig inszeniert, und man staunt angesichts der Heiterkeit, welche Peter Konwitschny in der holzschnittartigen Musik Bachs entdeckt hat.

Nach dem heiteren Ich habe genug Bachs dann ein verzweifeltes Ich habe genug Clara Schumanns im zweiten Teil des Abends. Nicoletta Chatzopoulou und Lotte de Beer haben aus Elfriede Jelineks 1982 in Bonn uraufgeführten Theaterstück Clara S. ein 50-minütiges Vierpersonenspiel plus Pianist und präpariertem Flügel für das Korzo-Theater Den Haag entwickelt.

Clara Schumann, die hochbegabte junge Frau, verzichtet in ihrer Ehe mit Robert auf ihre Karriere als Pianistin und auch als Komponistin. Clara und ihre kleine Tochter Marie werden in einer fiktiven Begegnung dem faschistoiden Literaten d´Annunzio ausgesetzt, Jelinek nutzt diese Versuchsanordnung, um Claras lebenslangen Druck und ihren zähen Widerstand gegen die ihr von der Gesellschaft zugewiesenen Rolle mit ungeheurer Dichte darzustellen: D´Annunzio, ein widerlicher Lustmolch, der die Enttäuschungen Claras auszunutzen sucht und sich mit klebrigen Süßigkeiten auch der kleinen Marie nähert. Überhaupt spielt die kleine Tochter die tragische Rolle in dem Plot. Indem Clara ihre Wünsche und unerfüllten Sehnsüchte in ihre Tochter projiziert, verliert auch diese ihre Unschuld. Das Stück beginnt mit der an die Klavierbank angebundenen und von ihrer Mutter zum Üben gezwungenen Marie. Robert halluziniert das gesamte Stück autistisch im Hintergrund, Aggressionen brechen immer dann aus, wenn Clara am präparierten Flügel spielt.
Die hoch verdichtete Geschichte erinnert an Arbeiten von Sarah Kane: Extreme Gefühle des Daseins im Spannungsfeld von Verzweiflung und eines tiefen Glaubens an die Liebe. Die bizarre Welt der gesellschaftlichen Konventionen wird vom sadistischen Literaten beherrscht, die Personen sind nur seine Spielzeuge, seine Folterinstrumente, gegeneinander ausgespielt, zum Verrat verführt oder gezwungen. Gnadenlos mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert, verlieren sie sich langsam selbst. Clara verliert sich und damit auch die Distanz, welche sie vor der Vernichtung Roberts bewahren würde. Lotte de Beer scheut sich nicht vor der unangenehmen Sprengkraft des Stoffes. Choreografisch sind die einzelnen Szenen äußert konzentriert durchkomponiert: Sprachrhythmus, Körperbewegungen, Musik, Lichtregie, alles sitzt perfekt. Klischees werden vermieden, die Personen in ihrer dramaturgischen Funktion scharf gezeichnet. Lisa Fornhammar als Clara agiert mit weiblicher Sprengkraft, ohne die Grenze zur Hysterie zu überschreiten. Andreas David schafft es, in dem Sadisten auch ein Stück Mensch durchschimmern zu lassen und in der kleinen Marie gelingt es Freya Kühn die ganze Bandbreite von kindlicher Unbekümmertheit und bezaubernder Neugierde darzustellen. Die Musik hält sich zurück, nur vereinzelt entwickeln sich geschlossene Gesangslinien, der Gesamteindruck bleibt fragmentarisch. In der Kombination mit der faszinierenden geschlossenen Musik Bachs im ersten Teil des Abends funktioniert das aber sehr gut. Das Premierenpublikum reagiert, besonders auf den zweiten Teil, zwiespältig. Einen todessüchtigen singenden Banker und eine ihren Gatten meuchelnde Clara Schumann hatten wohl die wenigsten erwartet!

Ich habe genug / Clara S.
Johann Sebastian Bach / Nicoletta Chatzopoulou
Inszenierung: Peter Konwitschny
Bühne & Kostüme: Helmut Brade
Er: Dietrich Henschel
Sinfonietta Leipzig
Musikalische Leitung: Christian Hornef
Regie & Bühne: Lotte de Beer
Dramaturgie: Joris van der Meer
Clara Schumann: Lisa Fornhammar
Robert Schumann: Alexander Schneider
Commandante d´Annunzio: Andreas David
Claras Tochter: Freya Kühn
Premiere: 9. Mai 2009, Kellertheater Oper Leipzig

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