„So etwas kann man hier einfach nicht bringen“
Verstohlen sehe ich mich um, in Erwartung der ersten standing ovations, denen ich mich auf der Stelle angeschlossen hätte. Aber der Applaus – kräftig, ausdauernd – wird nur einmal zur Emphase getrieben und zwar zur negativen. Als nach einer geraumen Zeit ein Herr von zwei Damen flankiert die Bühne betritt, und sich nach Abgleich mit dem Programmheft herausstellt, dass der Herr der Bühnenbildner und eine der Flankierenden die Regisseurin des Ganzen sind, da buht es auf einmal aus der Mitte des Saales und ich, die ich sonst nicht zu Ausbrüchen neige, sitze plötzlich zwischen denen, die unwillkürlich aber energisch Bravo ausrufen, so dass ein kurzes Wechselspiel zwischen Begeisterten und Buhrufern entsteht. Die Hauptverantwortlichen lassen sich nur ungern ein zweites Mal sehen. Hinter mir zischt eine Dame ihrer Nachbarin zu: „Also. So etwas kann man hier einfach nicht bringen. Dass die nicht merken, wenn die Leute nicht mehr kommen.“
Also. Es tut mir leid, dass ich nicht als erstes aufgestanden bin und deshalb möchte ich die standing ovations mit kühlem Kopf nachholen.
Rührung kann man durch romantischen Kitsch auslösen und in schweren Zeiten (die Zeiten sind immer schwer) lässt man sich gern aus dem Alltag reißen. Berührung, echte, ist etwas Seltenes. Der Stoff um Carmen verkörpert etwas Allmenschliches, Überzeitliches, zum Beispiel wie als Liebe missverstandene Leidenschaft Menschen ins Verderben reißen kann. Neil Shicoff als Don José mutiert unter dem Einfluss einer ungreifbaren, wandelbaren Circe vom pflichtbewussten Spanier mit symbiotischer Mutterbindung zum wild getriebenen und schließlich gehörnten Mann. Höher kann eine Fallhöhe kaum sein und deshalb erweicht seine gesungene Verzweiflung unser Herz. Katerina Beranova sorgt als Micaela, die eigentlich nur ein Opfer am Rande ist, für ergreifende Momente. Ekaterina Semenchuk als Carmen im Cowboy-Look erinnert an den Popstar Madonna und verkörpert den Wandel von der freiheits- und aufmerksamkeitssüchtigen Verführerin zum häkelnden Beiwerk eines Machos (Gábor Bretz, schon als Erscheinung ohne Gesang glänzend ausgewählt). So scheint der Lauf der Dinge nun mal zu sein, zu Bizets Zeiten genau wie heute. Das Zeitlose des Stoffes wurde mit Hilfe des Bühnenbilds in unserer Gegenwart innovativ und ästhetisch verankert. Die gelangweilte Militärtruppe um Don José könnte in Afghanistan stationiert sein. Die Schmuggler lungern auf einem Spielplatz mit Holzwachturm, der plötzlich einen ernsten Anstrich bekommt. Die Autobahnschilder im Hintergrund sind an dieser Stelle etwas zu viel des Guten. Genau wie die würstchenlangen Pinocchio-Nasen, die der Chor bekommt, als er vom Glück der Freiheit singt – sofort verbreitete sich im Publikum angespannte Missgunst. Bei einer insgesamt feinen, sinnlichen, hintersinnigen und wenig provozierenden Inszenierung geben solche Winzigkeiten einem ohnehin nicht aufgeschlossenen Teil des Publikums, nämlich demjenigen, der Carmen in Zigeunertracht erwartet hat, leider Argumente an die Hand. Wer allerdings das Gleiche immer gleich interpretiert sehen möchte, kann sich das Geld tatsächlich sparen und auf dem Opernkanal eine Aufzeichnung aus den 70ern ansehen.
Georges Bizet: Carmen
Inszenierung: Tatjana Gürbaca
Bühne und Licht: Klaus Grünberg
Kostüme: Silke Willrett
Mit: Ekaterina Semenchuk, Neil Shicoff,
Gábor Bretz, Ainhoa Carmendia u. a.
Musikalische Leitung: Antonello Allemandi
Chor der Oper Leipzig, Gewandhausorcheter
Oper Leipzig
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14.05.2009
Ein Traum von Freiheit: „Carmen“ (Sebastian Schmideler)
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