Durchdachtes Arrangement, lebendige Bilder

Aus dem Rahmen gefallen: Dominik Wilgenbus inszeniert „Zar und Zimmermann“

Meist wird Lortzing für zu leicht befunden. Mancher meint noch immer, man habe es hier mit einem talentierten lockeren Zeisig zu tun, der sich mit einer munteren, Rossini und Mozart abgelauschten Melodie in der Kehle durch die Geschichte der Spieloper gezwitschert habe. Dieser Eindruck täuscht. Es ist schade, dass dies im Verborgenen ausgeprägte, aber offenkundige Talent des Vormärz, die Fähigkeit zur Ironie nicht zur Haupteigenschaft der Deutschen geworden ist. Dabei hatte diese spezielle Begabung die besten Chancen dazu: Im Polizeistaat vor 1848 – und nicht nur da – war dieses Talent für einen denkenden Menschen überlebenswichtig. Lortzing war so ein Meister des verborgenen (Doppel-)Sinns. Er war einer, der es fertig brachte, zum Beispiel einen Schulmeister mit einem einzigen Wort zu charakterisieren: Wie viel (Sprach-)Witz steckt nicht in diesem einen sprechenden Namen „Bacculus“ (das Stöckchen). – Auch aus Zar und Zimmermann lässt sich mehr über Demokratie, über freimaurerische Ideale, die diese Oper mindestens ebenso durchziehen wie Mozarts Zauberflöte, sowie ganz allgemein über die denkwürdigen Folgen menschlichen Handelns lernen als aus manchem großen historischen Lehrbuch zum 19. Jahrhundert.

Nur die Kunst des Zuhörens sollte man schon verstehen, um Lortzing nicht als verschlafenen Biedermeier zu missdeuten, sondern als klugen Mann des Vormärz zu erkennen. Lortzing ist deshalb trotz der unvergleichlichen Bühnenwirksamkeit und der Popularität seiner Musik und seiner Charaktere eigentlich etwas für Leute mit Gespür für doppelten Boden. Dies war schon den mitdenkenden Zeitgenossen bewusst. Der berühmte Leipziger Arzt und Professor Heinroth dichtete einst „An den Schauspieler Lortzing nach Aufführung der Oper Die beiden Schützen: ‚Mit Ernst hat, die das Schöne lieben, dein Geistesodem angeweht. Die Menge, sie ist stumm geblieben. Warum? Weil sie dich nicht versteht.'“

Freundlich und wohlwollend, aber ohne wirkliche Begeisterung fiel der Applaus für Dominik Wilgenbus Neuinszenierung von Zar und Zimmermann aus, die am Sonnabend, dem 26. September 2009, zum Spielzeitauftakt in der Musikalischen Komödie Premiere feierte. Dabei hätte es allen Grund zum Jubel gegeben. Denn Wilgenbus gelang es vortrefflich, dafür zu sorgen, dass die altvertrauten Genrebilder, die jedermann mit der Kantatenszene, dem Auftritt des Bürgermeisters „O sancta justitia“, dem Holzschuhtanz oder dem Evergreen „O selig, o selig ein Kind noch zu sein“ verbindet, gehörig aus dem Rahmen fallen. Dafür bediente sich der Regisseur des Phänomens der Metalepse: Das heißt, die Figuren wechseln während des Spiels die Dimensionen von Raum und Zeit. Konkret bedeutet dies: Das Ganze ist in einem Bildermuseum der Gegenwart angesiedelt, von hier aus entsteigen die Figuren in Originalkostümen gleichsam den niederländischen Genrebildern und mischen sich mit modernen Museumsbesuchern und Security-Personal. Das Bildermuseum verwandelt sich mit scheinbar einfachen Handgriffen in dem genialen Bühnenbild von Udo Vollmer bald zum Schauplatz der Werftarbeiter („Zimmermann zu sein ist eine Lust“), bald zum Ort des Hochzeitsfestes, bald zum Rathaus von Saardam.

Die Inszenierung wirkt wie ein dicht gedrängtes und durchdachtes Arrangement von lebenden Bildern, die im Biedermeier als gesellschaftliches Ereignis in den Salons Hochkonjunktur hatten. Es entsteht eine klug konstruierte Zeitebenenverschmelzung, die das Zeitgemäße zeitlos sagt. Überdies ist alles in diesem abwechslungsreichen, bewegungsfreudigen Genrebilderreigen bis ins letzte Detail stimmig arrangiert. Alles steckt voller Überraschungen und versteckten Bedeutungen: So können Zuschauer, die wahlweise mit Adleraugen oder einem Opernglas ausgestattet sind, beispielsweise mühelos erkennen, dass der russische Gesandte, der bei Wilgenbus inkognito als Museumswächter eingesetzt ist, die Gazetta Istwestnaja liest.

Hervorzuheben ist, dass Wilgenbus die Charaktere Lortzings nicht nach Art des derben Lustspiels holzschnittartig herausgemeiselt hat, sondern nach Art der anspruchsvolleren Spieloper als lebendige Menschen darstellt, die in einem spannungsbeladenen Konflikt mit ihrer Umwelt stehen: Der einsame kaltblütige Zar Peter sehnt sich im Grunde danach, „ein Kind noch zu sein“. Der Zimmermann Iwan glüht vor Eifersucht und Liebe und rückt dabei unversehens ins Zentrum politischer Ranküne. Die intriganten Höflinge versuchen sich bald im grotesken Taucheranzug (herrlich Folker Herterich als Lord Syndham), bald antipodisch in der zeittypischen Mongolfi?re oder im Schiffskostüm (Radoslaw Rydlewski als Marquis de Châteauneuf) im Streit um die Zarengunst gegenseitig auszustechen. Marie ist hin und her gerissen zwischen ihrer Liebe zu Peter Iwanow und der Pflichtergebung in das Schicksal, bald einem vermeintlichen Zaren anzugehören. Die einflussreiche Witwe des Werftbesitzers (Margarate Junghans als Frau Browe) hat als mächtige Matrone die Schlüssel in der Hand und ist die Gegenspielerin des Bürgermeisters, der als Motor des Geschehens Verwirrung stiftet und die Handlung gewissermaßen mit Dampfkraft vorantreibt. Und da ist der Chor als demokratischer Handlungsträger, der hier als wahrer Held im Geschehen auftritt. – Solch ein dichtes Motivgeflecht arbeitet Wilgenbus aus Lortzings Spieloper mit Geschick und Verstand heraus, und das Erstaunliche ist, dass er dabei so locker, scheinbar leichtfüßig, witzig und verständlich zu Werke geht wie es am großen Haus am Augustusplatz in dieser Weise nicht denkbar wäre. Es ist die Mischung aus einem spezifischen „MuKo-Humor“ und Lortzingscher Tiefe, die zweifellos für diese Inszenierung Wilgenbus‘ spricht, dessen ebenso kluge wie witzige Konzepte sich im Zar und Zimmermann einmal mehr bewährt haben.

Es wimmelt vor gelungenen Einfällen, von denen der slapstikartige, komische Holzschuhtanz und die fabelhaft bewegungssicheren und munter vorgetragenen Chorszenen sicher besondere Höhepunkte sind. Hinzu kommen die bewährten Ensembletalente der MuKo: Bürgermeister van Bett ist bei Milko Milev keine verträumte Schlafmütze, sondern eine hellwache und quirlige Mischung aus Dorfrichter Adam und Figaro, ein Advocatus diaboli reinsten Wassers – schlau wie ein Fuchs, von der Todsünde der Hybris besessen, eloquent und unerschütterlich im Lateinischen wie ein Rhetorikprofessor der Frühen Neuzeit. Zauberhaft auch Mirjam Neururer als Marie, mit viel Talent spielte Alexander Voigt den eifersüchtigen Zimmergesellen Peter Iwanow. Glorios Kurt Schober als Zar Peter. – Alles in allem ein auch darstellerisch sehr überzeugendes Ensemble.

Was die musikalische Darbietung des Orchesters unter Stefan Diederich betrifft, so ist leider nicht zu überhören, dass es dem MuKo-Orchester diesmal schwer fällt, insbesondere die leichtfüßige, beschwingte Akkuratesse in den Parlando-Passagen zu erzeugen, die so spielend leicht wirkt, aber außerordentliche Präzision erfordert. Noch der letzte hört, dass es bereits in den Violinpassagen der Ouverture nicht mit rechten Dingen zugeht und es bisweilen mächtig klappert. Aber die Inszenierung macht es für diesmal leicht, darüber wegzusehen. Lortzing erklärte einmal in einem Gespräch mit einem Musikschriftsteller: „Einige meiner Opern bereiten vielen ehrlichen Seelen angenehme Stunden, damit bin ich zufrieden.“ Und wir sind es auch.

Albert Lortzing: Zar und Zimmermann

Inszenierung: Dominik Wilgenbus
Bühne: Udo Vollmer
Kostüme: Andrea Fisser
Mit: Milko Milev, Kurt Schober,
Mirjam Neururer, Alexander Voigt u.a.
Musikalische Leitung: Stefan Diederich
Chor, Extrachor und Orchester der Musikalische Komödie

Premiere: 26. September 2009, Musikalische Komödie Leipzig

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