Selbständig Denken

Nonos „Unter der großen Sonne mit Liebe beladen“ inszeniert von Peter Konwitschny

Al gran sole mit dem herkömmlichen Musiktheatervokabular zu beschreiben, fällt schwer. Vielleicht kann man sagen, dass das Stück wie ein Art musikalischer Essay aufgebaut ist, eine voluminöse Collage von Text- und Klangfragmenten. Lyrisch hochgespannte Gesänge stehen gegen machtvolle Instrumentalschübe. Das Fehlen aller Handlungszusammenhänge ist für jeden Regisseur ein spannendes Unterfangen. Vor Konwitschnys Inszenierung in Hannover 2004 haben sich die Regisseure mehr oder weniger darauf konzentriert Nonos düsteren Plot zweidimensional zu bebildern. Auch Nonos Musik, die unter Aufbietung avanciertester kompositorischer Mittel versucht, den revolutionären Inhalt zu transportieren, stellt eine nicht zu vernachlässigende Herausforderung dar. Die beiden Chöre müssen sängerische Extremsituationen bewältigen. Wie gerade wieder bei der Salzburger Inszenierung in diesem Sommer geschehen, singt man dann doch lieber vom Blatt.

„Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken, die Intelligenz, die größtmögliche entäußerte Innerlichkeit. Das ist heute das Entscheidende.“ In diesen Aufruf Luigi Nonos zum selbständigen Denken liegt der Regieansatz von Konwitschny und genau das ist auch die politische Botschaft, die Nono in seinem Stück über die Frauen in den gescheiterten Revolutionen mit aller venezianischen Inbrunst herausschleudert. Louise Michel, die Pariser Kommunardin, Tanja Bunke, die Gefährtin Che Guevaras, Haydeé Santamaria, die mit Fidel Castro am Sturm der Moncada-Kaserne teilnahm, sie alle revoltierten gegen die Unterdrückungsmaschinerie ihrer Zeit und demonstrierten mit ihrem Freiheitswillen was menschenmöglich ist, wenn man bereit ist selbständig zu denken.

Peter Konwitschny und Helmut Brade nehmen sich das Recht heraus, Nonos Stoff selbständig weiterzuentwickeln und erfinden ein wunderschönes Szenarium zum abstrakten Libretto. Kongenial wie die Inszenierung den künstlerischen Geist des Stückes auf die Inszenierung selbst anwendet: Unter einem Sternenhimmel, in einem Glashaus träumen zwei Mädchen von ihren (Revolutions-)Idolen. Doch einmal endet jede Kindheit und jede Träumerei, die Teddys der beiden werden verbrannt, jede bekommt ein Gewehr. „Ein Gespenst geht um in Europa“ – und schon schleppt eine blütenweiße Fee das Kommunistische Manifest heran. Lenin mit der Mütze wedelnd verliert vor lauter Aufregung die Kontrolle über sein Volk. Tanja Bunke schreibt „Selbständig Denken“ auf ein Che-Plakat, dann zerreißt sie es und verteilt die kleinen roten Fetzen wie Hostien unters Volk. Gerade heute am Vorabend des 20. Jahrestages des 9. Oktobers in Leipzig hat dieses Bild eine unheimliche Suggestionskraft. 70.000 Menschen gingen 1989 gemeinsam über den Leipziger Ring. „Wir sind das Volk“, in Habachtstellung ringsherum die Unterdrückungsmaschinerie in Form von 8.000 zum Teil schwer bewaffneten Uniformierten. Aber diesmal nahm die „Entäußerte Innerlichkeit“ kein tragisches Ende, im Wunder von Leipzig fand vielleicht so etwas wie eine Erdung von Al gran sole statt. Der Feldversuch von „Selbständig Denken“ war gelungen!

Selten erlebt man für ein zeitgenössisches Musiktheaterstück so eine rückhaltlose-frenetische Zustimmung wie am heutigen Abend. Selten kommen auch so viele Dinge zusammen: die sensible Inszenierung, ein technisch hervorragendes Ensemble und der Zeitgeist am Abend des Jahrestages der Friedlichen Revolution in Leipzig, der die Beteiligten und das Publikum zu einer leidenschaftlichen Gemeinschaft verbindet.

Luigi Nono „Unter der großen Sonne mit Liebe beladen“

Szenische Aktion in zwei Teilen
Musikalische Leitung: Johannes Harneit
Regie: Peter Konwitschny
Bühne und Kostüme: Helmut Brade
Dramaturgie: Albrecht Puhlmann

Leipzig-Premiere: 8. Oktober 2009, Oper Leipzig

Zur Rezension von Konwitschnys Aufführung in Hannover:

14.05.2004
Luigi Nono: „Unter der großen Sonne mit Liebe beladen“ (Steffen Kühn)
Staatsoper Hannover

Ein Kommentar anzeigen

  1. 10. November 2009

    Lieber Steffen,

    ich teile Deine Einschätzung des großartigen Opernabends, würde seine Botschaft aber nicht so eng an den gegenwärtigen erinnerungspolitischen Kurs binden. „Selbständig Denken“ mag im kurzen Herbst der Revolution wirklich ein Antriebsmoment gewesen sein, wenn auch nicht der einzige. Spätestens mit den Losungen des einen Volkes wurde das aber wieder aufgegeben. Der Feldversuch ist eben gerade gescheitert.

    Am Ende der Oper werden die Menschen m.E. in einer von einer, ja: Unterdrückungsmaschinerie, zermahlen. Nur stellt diese hier eher das anonyme kapitalistische Geflecht von Fabrik und Knast dar. Man mag das Bild teilen oder nicht, an ’89 dockt das nicht an, vielmehr jene an die Wand gemalte Parole „Wir kommen wieder“ – was auf einmal mehr auf das marxsche Gespenst verweist.

    tp

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