„An den Fronten der Weltrevolution“

Politischer Umbruch, Afrika und Joris Ivens: Ein Ausblick auf das 52. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm

Joris Ivens: „Das Unmögliche zu filmen, ist die wunderbarste Sache, die es gibt.“ (Foto: absolut Medien)

Es war die dritte Leipziger Dokfilmwoche im Jahr 1960, als das Festival seinen anfänglichen, betulichen Charakter eines deutsch-deutschen Filmaustauschs ablegte und mit internationalem Anspruch auferstand. Entscheidenden Anteil daran hatte der Dokumentarfilmpionier Joris Ivens, der in den 50er Jahren mehrere Filme mit der DEFA produzierte und nun im Hintergrund des Festivals an seiner Neugründung mitwirkte. Der Name Ivens lockte auch andere große Dokumentaristen wie John Grierson oder Alberto Cavalcanti nach Leipzig, wodurch das Festival schon bald ein hohes internationales Renommee erlangte.

Fortan huldigte das Dokfestival alljährlich seinem Übervater Joris Ivens, bis es ihn Ende der 60er Jahre verstieß. Er habe sich vom Sowjetkommunismus abgewandt und für Maos Kulturrevolution entschieden, hieß es damals über den widerspenstigen Dokumentaristen, der schließlich nie mehr nach Leipzig zurückkehrte. Obwohl sich Ivens stets politisch zeigte, ließ sich der „Filmemacher an den Fronten der Weltrevolution“ (Klaus Kreimeier) eben nie vereinnahmen.

Wie wohl kein anderer steht der Name Joris Ivens für die wechselvolle Geschichte dieses größten deutschen Dokumentarfilmfestivals. So ist es ist auch als späte Wiedergutmachung zu verstehen, dass das 52. DOK Leipzig gemeinsam mit dem Bundesarchiv-Filmarchiv den Filmemacher zu seinem 20. Todestag mit einer beachtlichen Retrospektive ehrt. Zu sehen sind neben seinen Avantgardefilmen wie Die Brücke (1927) und den eher propagandistischen DEFA-Produktionen wie Das Lied der Ströme (1953) auch sein essayistisches Alterswerk Eine Geschichte über den Wind (1988). Letzteren drehte er zusammen mit seiner Frau Marceline Loridan-Ivens, die auf dem Festival zu Gast sein wird.

Innenansichten von Afrika

Das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, das diesmal vom 26. Oktober bis 1. November stattfindet, besticht neben seinen Wettbewerben auch in diesem Jahr durch die umfangreichen, aufwendig kuratierten Sonderprogramme. Geradezu exemplarisch steht der „Weltenfilmer“ Joris Ivens für das Anliegen des Dokfestivals, stets ein „Fenster zur Welt“ sein zu wollen. Dieses öffnet sich nun, um einen völlig neuen Blick auf einen weithin unbekannten Kontinent zu werfen. Das Programm „T.I.A. – This is Africa“ zeigt 20 Dokumentar- und Animationsfilme, die nicht mit der sonst üblichen, klischeebeladenen europäischen Perspektive von außen auf Afrika schauen, sondern Innenansichten von afrikanischen Filmemachern bieten, die unmittelbar vom Leben in ihren eigenen Ländern erzählen. „Es ist ein großer Unterschied, ob jemand aus Europa eingeflogen kommt, Aidskranke oder Flüchtlingslager filmt und wieder verschwindet, oder ob ein Filmemacher Teil einer sozialen Wirklichkeit ist, die eben auch mit Aids oder Emigration zu tun hat“, sagt der Kurator Matthias Heeder.

So porträtiert der humorvolle Dokfilm For the Best and For the Onion! ein Dorf zwischen Tradition und Moderne, indem er von einem Zwiebelbauern erzählt, der seine Tochter verheiraten will, aber dafür Geld braucht und den besten Zeitpunkt finden muss, um seine Ernte zu verkaufen. The Boxer with the Red Gloves aus der Republik Kongo schildert ein magisches Ritual, dem sich ein Boxer unterzieht, um Stärke und Kraft für seinen bevorstehenden Kampf zu sammeln. Und Because You’re Gorgeous ist ein hinreißend komischer Animationsfilm aus Südafrika, der anhand eines üppig ondulierten Warzenschweins die menschliche Eitelkeit aufs Korn nimmt.

Dokfilme zum Mauerfall-Jubiläum

Natürlich nimmt sich auch DOK Leipzig im diesem Jahr des Mauerfall-Jubiläums an. Anders als erwartet steht jedoch nicht bloß Leipzig als Ausgangsort der Friedlichen Revolution im Zentrum. Vielmehr weitet das Sonderprogramm „Transit ’89. Danzig – Leipzig – Bukarest“ den Blick über Deutschland hinaus auf die Entwicklung in Osteuropa, ohne die der Mauerfall nie denkbar gewesen wäre. Und es weitet den Blick, indem es selten gezeigte Dokumentarfilme direkt aus jener Zeit auf die Leinwand bringt – ein Gegenangriff auf die Erinnerungsmaschinerie mit ihren immer gleichen Fernsehbildern.

So dokumentiert Workers ’80 (1980) auf mitreißende Weise die Geburtsstunde der Solidarnósc auf der Gdansker Lenin-Werft unter der Führung des jungen Lech Walesa. In a Vice (1987) zeigt den ungarischen „Weg der Erneuerung“ als Untergang eines Stahlwerks. Und Timisoara, December 1989 (1991-93) dokumentiert die Proteste in Bukarest, zu denen Kuratorin Grit Lemke anmerkt: „Der friedliche Aufstand hierzulande lässt sich nicht trennen vom Blutvergießen in Rumänien.“

Auch auf Deutschland fällt der Blick mit der Realsatire Deutsch und Frei. Geschichten aus dem Weihnachtsland (1990) und dem „Wende“-Klassiker Leipzig im Herbst (1989) von Andreas Voigt und Gerd Kroske. Von Voigt ist ebenfalls Letztes Jahr – Titanic (1990) zu sehen, der rund 20 Jahre im Archiv schlummerte. Ein surreales, gespenstisches Porträt einer Kneipenwirtin, eines Arbeiters und anderer verunsicherter Menschen im Zwischenstadium von Mauerfall und Deutscher Einheit – ein karnevalesker letzter Tanz auf dem untergehenden Schiff DDR.

Kriegsgeschichte als Kochshow: „Cooking History“

DDR-Trickfilmer nach 1989

Dem Mauerfall-Jubiläum widmet sich auch der Animationsfilmbereich, der seit 1995 fester Bestandteil des Leipziger Dokfestivals ist. Das Sonderprogramm „Die Unbeirrbaren – DDR-Trickfilmer nach 1989“ fragt, was aus den Animationsfilmern von einst geworden ist. Damals arbeiteten die meisten beim DEFA-Trickfilmstudio in Dresden, andere beim Sandmannstudio des DFF in Berlin-Mahlsdorf und einige wenige in Potsdam-Babelsberg.

Jacqueline Zeitz, Animationsfilmkuratorin von DOK Leipzig, hat gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Animationsfilm (DIAF) in Dresden zwei Programme mit Kurzfilmen zusammengestellt, in denen alte und neue Arbeiten von ehemaligen DDR-Trickfilmern gegenübergestellt werden. Mit dabei sind unter anderem Olaf Ulbricht, Lutz Stützner, Gábor Steisinger, Ralf Kukula und Tony Loeser, welcher mittlerweile der Geschäftsführer von Deutschlands größtem Trickfilmstudio, MotionWorks in Halle, ist. Alle Filmemacher werden zwischen den Vorführungen Rede und Antwort stehen.

Flaggschiffe: die Wettbewerbe

„Die Flaggschiffe des Festivals sind natürlich die vier Wettbewerbe“, sagt sein Direktor Claas Danielsen. Vor zwei Jahren rief er den Nachwuchswettbewerb „Generation DOK“ ins Leben, der Handschriften junger internationaler Dokumentaristen versammelt, deren Filme zwar nicht immer perfekt, aber häufig mutig, radikal und überaus spannend sind. Empfehlenswert sind der unterhaltsame Dokfilm Side by Side von Christian Sonderby Jepsen über einen unerbittlichen Nachbarschaftskrieg in Dänemark, Isolation von Stuart Griffiths und Luke Seomore über englische Soldaten, die mit den äußeren und inneren Wunden ihres Einsatzes im Irakkrieg zu kämpfen haben, und nicht zuletzt Antoine von Laura Bari über einen sechsjährigen blinden Jungen und das hochspannende Detektivspiel in seiner ganz eigenen Gedankenwelt.

Im „Deutschen Wettbewerb Dokumentarfilm“ sticht neben dem China-Ausflug Shanghai Fiction von Julia Albrecht und Busso von Mueller sowie dem Alltagsporträt Srebrenicas berall nur nicht hier von Tamara Milosevic vor allem Die Frau mit den 5 Elefanten von Vadim Jendreyko heraus. Der Dokumentarist begegnet in seinem feinfühligen, wenn auch ästhetisch nicht innovativem Film der Übersetzerin Swetlana Geier, die selbst schon so legendär ist wie ihre Dostojewski-Übersetzungen. Aus „Schuld und Sühne“ zum Beispiel machte sie „Verbrechen und Strafe“, denn Geier verdeutscht nicht, sondern spürt dem Wesentlichen in den Werken nach. Diesem Geiste der mit leiser Stimme philosophierenden Übersetzerin kommt Regisseur Jendreyko überaus nah, indem er die heute 85-Jährige in ihrem Haus beobachtet und interviewt. Während einer Reise nach Kiew, von wo sie im Krieg wegen Stalins Terror floh und seitdem nicht mehr zurückkehrte, entblättert die bescheidene Grand Dame der Literatur ihre bewegte Lebensgeschichte.

Im „Internationalen Wettbewerb Animationsfilm“ bestechen unter anderem der phantastisch-dokumentarische Kurzfilm Photograph of Jesus von Laurie Hill, der deutsche Beitrag Der Da Vinci Timecode von Gil Alkabetz und Orgesticulanismus von Mathieu Labaye, der sich der Ausgrenzung von Behinderten widmet.

Hoffnung und Verzweiflung: Einwanderer in Paris im Gewinnerfilm „The Arrivals“

Großes Kino im Internationalen Wettbewerb

Im „Internationalen Wettbewerb Dokumentarfilm“, dem Hauptwettbewerb des Dokfestivals, erwarten einen schließlich bekannte Namen wie Volker Koepp, der für seinen neuen Film Berlin Stettin nicht nur seine Heimatorte bereiste, sondern zugleich einen Blick zurück auf sein filmisches Schaffen zu DEFA-Zeiten wirft. Kameramann Thomas Plenert liefert wie immer wundervolle Landschaftsaufnahmen und Koepp lauscht geduldig den Menschen, die er zum Teil bereits in Filmen wie der Märkischen Trilogie oder dem Wittstock-Zyklus porträtierte. Der Lebensrückblick eines großen Dokumentaristen – schon deshalb etwas Besonderes.

Auch Peter Kerekes legt einen neuen Film vor, mit dem er sich wieder ungeniert an den Grenzen des Dokumentarischen bewegt. Cooking History erzählt so virtuos wie absurd Kriegsgeschichte anhand von Kochrezepten. Dafür nutzt Kerekes sowohl Archivmaterial und Interviews als auch abstruse Inszenierungen. Urkomisch schwärmen etwa betagte Trachtenträger von ihrem deutschen Brot im Zweiten Weltkrieg. Und in einer Parallelmontage konfrontiert er einen kroatischen Armeekoch mit einer serbischen Köchin. Mit starken Bildern unterwirft er die vorgefundene Realität einem klaren Filmkonzept, ohne sie jedoch zu instrumentalisieren. Eine lebendige Form der Erinnerung, die den Schrecken trotz aller Komik nicht ausblendet.

Großes Kino bietet auch The Arrivals von Claudine Bories, die sich als stiller Beobachter in eine Pariser Behörde für Einwandererfamilien begeben hat und dort den ganz normalen Wahnsinn in den Büroräumen der Sozialarbeiter beobachtet. Ihnen gegenüber sitzen Menschen aus Sri Lanka, Tschetschenien oder der Mongolei. Ihre Gesichter offenbaren Hoffnung und Verzweiflung. Die Sprachbarrieren scheinen unüberwindbar, der Bürokratiewahn ist gigantisch. Einwanderer, die zum Beispiel nicht von sich aus das Wort Asyl aussprechen, müssen im Park übernachten – der Verwaltungsapparat kennt keine Gnade. Das Engagement der Sozialarbeiter verkehrt sich in Frust und mündet nicht selten in Verzweiflung und Eiseskälte. The Arrivals ist Direct Cinema vom Feinsten: Der Kameramann als stiller Beobachter, keine Interviews, kein Kommentar. Dafür Hochspannung pur. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle.

Insgesamt konkurrieren in den Wettbewerben 83 Produktionen aus 2.578 Einreichungen um Goldene und Silberne Tauben und zahlreiche weitere Preise im Gesamtwert von 67.000 Euro. Ganze 330 Filme aus 69 Ländern laufen beim diesjährigen DOK Leipzig. Wer hätte das gedacht, als das Festival Mitte der 50er als „Gesamtdeutsche Kultur- und Dokumentarfilmwoche“ gegründet wurde, die dem Tierfilmer Heinz Sielmann für seine Dokumentation Zimmerleute des Waldes den Hauptpreis verlieh.

52. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm

26.10.-1.11.2009, CineStar, Passage Kinos u.a.

www.dok-leipzig.de

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