Archaische und mediale (Selbst-)Opferungen

Peter Konwitschny startet mit „Alkestis“ seinen Gluck-Ring an der Oper Leipzig

(Fotos: Andreas Birkigt)

Die Idee, analog zu Wagners Nibelungen-Tetralogie aus vier einzelnen Opern Christoph Willibald Glucks, in deren Zentrum starke Frauenfiguren stehen, einen neuen Ring zu schmieden, beschäftigt ihn schon längere Zeit, an der Oper Leipzig wird Chefregisseur Peter Konwitschny nun dieses Vorhaben realisieren. Den Auftakt bildete das Reformwerk Alkestis, bis 2012/13 wird mit Iphigenie in Aulis, Iphigenie auf Tauris und Armida pro Spielzeit eine weitere Gluck-Oper folgen. Ehrgeiziges Anliegen dieser Tetralogie ist es, von der mythischen Urzeit bis zur Moderne den Zivilisationsprozess der abendländischen Kultur nachzuzeichnen. Bei Wagner wie bei Gluck entsteht das tragische Potential aus der Unvereinbarkeit von Liebe und Macht: Alkestis geht stellvertretend für ihren Gatten in den Tod, Iphigenie wird – zwecks günstiger Überfahrt im Trojanischen Krieg – erst von ihrem Vater den Göttern zum Opfer gebracht, soll dann auf Tauris wiederum ihren Bruder Orest opfern, von der Zauberin Armida wird erwartet, ihrem Herzen zu widerraten.

Gluck, der 1752 in Wien zum kaiserlichen Hofkomponisten ernannt wurde, gilt in der Musik- und Theatergeschichte als großer Opernreformer. Im Gegensatz zur „Azione teatrale“ Orfeo ed Euridice (1762) findet sich seine 1765 am Wiener Burgtheater uraufgeführte „Tragedia per musica“ Alceste heute allerdings nur selten auf den Spielplänen, obwohl die Neuerungen gegenüber der tonangebenden italienischen „Opera seria“ hier weitaus konsequenter sind und er – zusammen mit dem Librettisten Ranieri de Calzabigi – den eigenen Reformanspruch im Vorwort des Werkes manifestierte. Was später als Herrschaft des Wortes über die Musik und Eindämmung virtuoser Sängerwillkür gefeiert wurde, äußert sich in der Alceste im Bestreben um höchste Einfachheit – Winckelmanns idealisiertes Bild der griechischen Antike, das stilbildend für die deutsche Klassik wurde, lässt grüßen. Statt auf theatrale Aktion wurde das Augenmerk auf die Reflexion innerer, „wahrhafter“ Empfindungen der Protagonisten gerichtet. Lebt Händels auf den gleichen mythischen Stoff zurückgreifende Oper Admeto, die in Leipzig gerade in der intelligenten wie unterhaltsamen Inszenierung von Tobias Kratzer zu sehen ist, noch von einem amourösen Intrigengeflecht, erzählen Gluck und Calzabigi die Geschichte der thessalischen Königin Alkestis noch geradliniger als Euripides: Gerade die Herkules-Figur schien ihnen in seiner burlesken Art der Fallhöhe des Stoffes nicht angemessen, in der Wiener Fassung wird deshalb Apollon als „Deus ex machina“ bemüht, um die Ehegatten wieder in dieser Welt zu vereinen. Bei der tiefgreifenden Revision für Paris im Jahre 1776 packten aber Glucks Librettisten Le Blanc du Roullet Zweifel an dieser untheatralischen Lösung, hier darf der Halbgott wieder Alkestis aus dem Hades zurückholen, sein keulenschwingender Auftritt wird nachträglich von Apollon legitimiert.

Für den Auftakt des Gluck-Ringes wurde nun eigens eine „Leipziger Fassung“ der Alkestis erstellt. Die ersten beiden Akte folgen in italienischer Sprache der Wiener Urfassung, in der auch Alkestis’ Kinder auftreten, der dritte Akt ist der Pariser Version entnommen, das dadurch entstandene Sprachproblem wird ganz nebenbei von Herkules gelöst. Dieser Kunstgriff versucht auch dem weit verbreiteten Vorwurf entgegenzuwirken, Glucks Alkestis sei handlungsarm, womit nicht zuletzt die bekannteren Inszenierungen der letzten Jahre zu kämpfen hatten: Während sich Robert Wilson in ästhetischer Unverbindlichkeit verliert, karikieren Jossi Wieler und Sergio Morabito an der Staatsoper Stuttgart (2006) freikirchliche Frömmelei und Doppelmoral.

Peter Konwitschny nimmt hingegen Gluck und Calzabigi die ersten beiden Akte beim Wort, ohne ein domestiziert-klassizistisches Griechenbild zu bedienen. Statt „Edler Einfalt, Stiller Größe“ wird vielmehr eine archaische Gesellschaft der vorhellenistischen Zeit gezeigt, der Tod des Königs würde – über das private Schicksal hinausgehend – die gerade erst formierte soziale Ordnung gefährden. Doch auch diese frühe Stufe der Zivilisation droht schon in ihren eigenen Konventionen zu erstarren: Um einen Fels-Altar versammelt fleht das Volk pathetisch um göttliche Gnade für den sterbenskranken Admetos, ein blökendes Lamm, das rechtzeitig gegen einen Dummy ausgetauscht wird, steht zum Opfer bereit. Nach Verkündung des Orakels ziehen sich alle betreten zurück. Niemand will stellvertretend für den König sterben, obwohl sein Leben auch ihre Zukunft gewährt. Einzig Alkestis ist bereit, für den geliebten Gatten freiwillig in den Tod zu gehen. Nach einem Moment des Schreckens wächst sie in ihrem Willen zur Opferung ihres eigenen Lebens weit über menschliches Maß hinaus, nicht einmal ihre Kinder können sie von diesem Entschluss abbringen, freiwillig das Totenreich aufzusuchen. Gerade in der Hades-Szene gelingt Konwitschny ein in seiner Einfachheit poetisches Bild: Alkestis sitzt – unter Zuhilfenahme der Maschinerie – am Eingang zur Unterwelt, in sich selbst ruhend, aber trotzdem nicht ohne Angst. Den blauverschleierten Schatten kann sie sich noch für kurze Zeit entziehen, aber aus der Begegnung trägt sie Spuren davon. Ihre Augen werden verbunden, ihre Pulsadern ebenfalls mit blauen Tüchern umwickelt.

Admetos Freude über seine Genesung ist folglich nur von kurzer Dauer. Zwar verdrängt er im ausgelassenen Spiel mit seinen Kindern prompt, dass er sein Leben nur dem Tod eines ihm nahestehenden Menschen verdankt, sein Kleinfamilien-Idyll zerbröckelt aber sogleich, als Alkestis ihm ihren Entschluss offenbart. Egozentrisch wirft Admetos ihr Grausamkeit vor, da sie mit ihrer selbstlosen Tat gegen sein Rollenbild der treusorgenden Gattin und Mutter verstößt. Sein Wunsch, Alkestis in den Tod zu begleiten, kommt zu spät: Das Volk hat sich um den Altar versammelt, um von der Königin Abschied zu nehmen, der Oberpriester (recht pathetisch: Jürgen Kurth) poliert sein Messer, bereit, um für den Erhalt der göttlichen und sozialen Ordnung auch einen Menschen zu opfern. Wird Alkestis altruistischer Entschluss anfangs noch allgemein gerühmt, so kippt die Stimmung schnell um. Ihre zunehmenden Zweifel rufen Unruhe in der Gruppe hervor, ein letztes Aufbäumen gegen das nicht hinterfragte Ritual wird von einigen Männern gewaltsam beigelegt, unter der sich schließenden Kurtine wird noch ersichtlich, wie sich die Kultstätte blutrot verfärbt.

Gut anderthalb Stunden lang hinterfragt Peter Konwitschny im antiken Stoff die Bedeutung des Opfers für Individuum und Gemeinschaft. Nach der Pause bricht dann im dritten Akt die – nicht minder archaisch anmutende – Moderne ein. Während Ismene und Evandros noch mit der Reinigung der Kultstätte beschäftigt sind, platzt in die kollektiv verordnete Trauer Herkules – ein barbrüstiger, goldgelockter Superheld mit jovialen Entertainer-Qualitäten. Per überdimensionaler Mikrofon-Keule befragt er auf Deutsch das Volk über seine Trauer und verspricht, Alkestis und Admetos wieder in dieser Welt zu vereinen. Kaum gesagt, weicht der Opferfelsen zwei Zuschauertribünen, die Kultstätte verwandelt sich in das Fernsehstudio von Hercool-TV. Die Thessalier mutieren zu einem quietschbunt uniformierten Jubel-Publikum, das sich nach anfänglicher Überraschung schnell mit der passiv konsumierenden Haltung abgibt und auch – ohne weiter darüber nachzudenken – die neue Sprache bedingungslos annimmt. Zum eigenständig reflektierten Handeln sind sie nicht mehr befähigt, künftig geben Teleprompter und Applaus-Schilder die erwarteten Verhaltensmuster vor. Durch einen goldenen Glittervorhang wird Alkestis geführt, verstört über die Art und Weise, wie sie zur Schau gestellt wird. Schnell wird deutlich: Herkules von ein paar Fernsehballett-Damen begleitete Showeinlage als Unterwelt-Fährmann Charon, die sich – selbstredend ohne ironisches Augenzwinkern – auch in einer Volksmusik-Sendung finden ließe, mag symptomatisch für den kulturellen Niveauverlust stehen. Die wahre Hölle der heutigen Zeit besteht jedoch in der medial aufbereiteten Ausschlachtung intimster Probleme. Ihre Schlichtung in so genannten Doku-Soaps wird gerne als professionelles Coaching für alle Lebenslagen verkauft, fordert aber tatsächlich – ohne Rücksicht auf Verluste – zum Seelenstriptease zwecks Quotenerfolg auf. Das Publikum weidet sich folglich an Alkestis und Admetos Streitereien, von Hercool-TV live auf die große Leinwand übertragen – für ihr tatsächliches Schicksaal interessiert es sich nicht. Als Admetos ausrastet und mit Herakles Keule den Moderator niederschlägt, hilft nur noch die Zwangsverordnung einer massenkompatiblen Identität, um die Entfremdung des Paares aus der Welt zu schaffen: Alkestis tritt im Abendkleid auf, das Laufen in High Heels scheint nicht das einzige Problem ihrer neu gewonnenen Rolle zu sein, Admetos wird vor aller Augen in einen Smoking gezwängt. Ihre Kinder komplettieren das Bild der heilen Familie, das eiligst durch Frischhaltefolie für die Nachwelt konserviert wird. Von der Intendantenloge aus rühmt der schmierige Programmdirektor Apollon (souverän wie immer: Tomas Möwes) das Werk des Mediators Herkules und weist den Weg nach Aulis; Legionäre, die direkt dem Römerlager Kleinbonum entsprungen scheinen, deuten bereits auf den Ausbruch des Trojanischen Krieges hin.

Bereits im ersten Teil des Gluck-Ringes schlägt Peter Konwitschny den Bogen von den Anfängen der abendländischen Zivilisation hin zu deren Schwundstufe, in der nichts mehr heilig ist, Werte außer Kraft gesetzt sind, Tabus schamlos gebrochen werden. Verbindendes dramaturgisches Glied ist das (Selbst-)Opfer, einmal im mythisch-kultischen Sinne, einmal im Dienste medialer Vermarktung. Dieser abrupte Einbruch der Moderne ist bedingt durch Konwitschnys Gabe, jede Note, jedes Wort zu hinterfragen, nicht aus der Luft gegriffen und besitzt Dank seiner hohen Professionalität durchaus Unterhaltungswert. Trotzdem lässt sich nicht verhehlen, dass die Inszenierung ihre intensivsten Momente erlebt, wenn allgemein menschliche Beweggründe fokussiert werden, der Regisseur ganz und gar seinen Figuren vertraut: Beispielsweise wenn Alkestis in der Arie „Divinità Infernali“ schroff ihre Kinder abweist, die sie mit „Mami, tu’s nicht!“-Rufen von ihrem Entschluss abbringen wollen; wenn sie in sich ruhend am Abgrund zum Hades sitzt und später auf Admetos geäußerte Hoffnung, mit ihr alt werden zu können, die Male aus der Begegnung mit den Schatten zu verbergen sucht; oder wenn Admetos Trost in dem toten Opferlamm sucht, als er erfährt, dass Alkestis ihr Leben für das seine versprochen hat. Das alles berührt durch eine stille Poesie, deren Kraft gerade in ihrer Einfachheit liegt, zumal Konwitschny auf Sänger zurückgreifen konnte, die auch schauspielerisch ihren Figuren bedingungslos Gestalt verleihen: Der inneren Zerrissenheit der Alkestis gibt Chiara Angella mit jugendlich-dramatischem Sopran glaubhaft Ausdruck, was – einiger Redundanzen im nicht gerade handlungsreichen Libretto zum Trotz – niemals aufgesetzt wirkt. Dass sie selbst dann nicht zum Forcieren neigt, wenn sie vom Orchester übertönt zu werden droht, kann ihr nur zugute gehalten werden, ihr betörendes Piano würde aber auch dies wieder wett machen. Yves Saelens klingt mitunter ein wenig nasal, das Unvermögen Admetos, seine Liebe zu Alkestis in produktive Bahnen zu lenken, gestaltet er aber dermaßen expressiv, dass er vor Wiederholung des A-Teils mitten in der Arie heftigen Applaus erntet. Herkules ist mit Ryan McKinney ideal besetzt. Er verleiht dem jugendlichen Haudegen durchaus selbstironisch Profil, ohne ins Klamaukartige abzudriften, sein sonorer Bariton wird trotz aller abverlangten szenischen Aktion stets kultiviert geführt. Neben den Gästen ist aus dem eigenen Ensemble Erfreuliches zu vernehmen: Publikumsliebling Viktorija Kaminskaite besticht als Ismene durch gewohnt warmen, sauber intonierten Sopran. Die Entdeckung des Abends ist aber Norman Reinhardt, seit Beginn der Spielzeit als lyrischer Tenor an der Oper Leipzig verpflichtet. Wie er mit strahlendem Timbre und absolut klarer Diktion den Evandros gestaltet, dazu noch voller Tatendrang über die Bühne springt, macht neugierig auf weitere Partien.

Da Gluck mit seiner Opernreform auch die schematische Arienabfolge der „Opera seria“ aufgebrochen hat, kommt in der Alkestis dem Chor eine zentrale Aufgabe zu, der sich unter Einstudierung seines scheidenden Direktors Sören Eckhoff wieder einmal unanfechtbar präsentierte. Am Pult des Gewandhausorchesters stand George Petrou, der erst in den letzten Proben für einen erkrankten Kollegen eingesprungen ist und sich dafür bravourös geschlagen hat. Mehr auf Transparenz als auf dramatischen Effekt setzend, präsentiert Petrou einen äußerst schlanken Klang, der Glucks Stellung zwischen Barock und Klassik deutlich werden lässt. Dass es äußerst selten noch an der letzten Präzision fehlte, dürfte sich in den folgenden Vorstellungen auch einspielen.

Das Premierenpublikum quittierte den Auftakt des Leipziger Gluck-Ringes überwiegend mit langanhaltendem Applaus und Jubel, in den sich nur wenig Protest mischte. Wohin die weitere Reise führt, wird sich schon im Herbst 2010 mit Iphigenie in Aulis zeigen. Interessant dürfte es aber auf jeden Fall werden, zumal als Bindeglied zu Iphigenie auf Tauris Konwitschnys Inszenierung von Richard Strauss’ Elektra im April 2011 angesetzt ist – der altbekannte Mythos wird – wie jetzt schon mit Händels Admeto und Glucks Alkestis – also durch höchst unterschiedliche Werke weitererzählt. Das ist nicht nur spannend, sondern straft auch all diejenigen Lügen, die eine programmatische Linie im Spielplan der Oper Leipzig vermissen.

Christoph Willibald Gluck:

Alkestis / Alceste

Tragische Oper in drei Akten

Musikalische Leitung: George Petrou

Dramaturgie: Bettina Bartz

Inszenierung: Peter Konwitschny

Bühne: Jörg Kossdorff

Kostüme: Michaela Mayer-Michnay

Chöre: Sören Eckhoff, Sophie Bauer

Choreographie: Mirko Mahr

Video: fettFilm (Momme Hinrichs, Torge Möller)

Oper Leipzig, Premiere: 17. April 2010; weitere Vorstellungen: 28.5., 18.6.2010

Video zur Inszenierung

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