Die Einheitskuh

Rotes Höhenvieh steht seit 20 Jahren wieder auf deutsch-deutschen Weiden. Eine Glosse von Anna Kaleri zum Tag der Deutschen Einheit

Muh! (Grafik: T. Prüwer)

Es ist rotbraun, hat eine herabhängende Wamme und ein helles bis rosafarbenes Flotzmaul. Wenn Sie zur Handvoll Eingeweihter gehören, wissen Sie gleich, wovon die Rede ist: vom Roten Höhenvieh. Diese urtümliche Rinderrasse wurde in der DDR wegrationalisiert und wäre heute ausgestorben, hätte es nicht einen Zufall gegeben.

Das Rote Höhenvieh wurde im 16. Jahrhundert zum ersten Mal schriftlich erwähnt und geht vermutlich auf das Keltenrind aus vorrömischer Zeit zurück. Viele Jahrhunderte lang machte es sich in der Dreinutzung Arbeit-Fleisch-Milch vor allem in Mittelgebirgen verdient. Familien hielten ein oder zwei Kühe. 1890 begann eine einheitliche Herdbuchführung. 1911 vollzog sich eine Vereinigung, von der ein nicht boviner (zum Rind gehöriger) Mensch kaum gehört haben dürfte: Die verschiedenen Rotviehschläge der Mittelgebirge, wie der Harzer, der Vogtländer und der Vogelsberger Schlag, wurden zu einer Rasse vereint, zum Mitteldeutschen Höhenvieh. 1949 kam es zur Teilung des Zuchtgebietes, in deren Folge die Möglichkeit des Austausches zu Zuchtzwecken unterbunden war. Im östlichen Zuchtgebiet wurden verschiedene Einkreuzungen versucht, denn die Milchleistung und Euterqualität des Roten Höhenviehs entsprachen nicht den Effizienzvorstellungen, zumal die Leistung in der Stallhaltung noch einmal wesentlich zurückgegangen war. „Die Kühe waren ja den persönlichen Kontakt mit den Menschen gewöhnt“, erklärt Brockenbauer Uwe Thielecke. „In der LPG wurden sie aus dem Familienrhythmus gerissen. Plötzlich standen sie mit 50 Tieren im Stall und mussten sich dem Herdengefüge anpassen. Das hat die Harzkuh nicht abgekonnt.“

Das Rote Höhenvieh gilt in Folge der engen Bindung an den Menschen als ruhig, ausgeglichen und charaktervoll. Wie das zusammenpasst, weiß der Fachmann. „Ausgeglichen heißt bei der Harzkuh stur. Die Tiere wissen schon genau, was sie wollen und sind schwer in eine andere Richtung zu bewegen. Sie wissen auch, wofür sie ihre Hörner haben.“ Doch weiter in der Geschichte: Anfang der 1980ger Jahre gab es im westlichen Zuchtgebiet insgesamt nur noch 40 weibliche Exemplare des Roten Höhenviehs und keinen passenden Bullen mehr. Der letzte seines Geschlechts war der Vogelsberger Rotviehbulle „Uwe R 12“, geboren 1963 in Nordhessen, 1969 bei der Grünen Woche in Berlin von Bundespräsident Heinrich Lübke persönlich ausgezeichnet und anschließend zu Wurst verarbeitet. Der letzte ostdeutsche Rotviehbulle wurde 1970 zur Schlachtbank geführt. Das Rote Höhenvieh stand vor dem Aus.

Im Dezember 1984 geschah ein kleines Wunder: Bei der Inventur in einer Gießener Besamungsanstalt tauchten 60 Sperma-Portionen von Uwe auf. Sie ruhten in einem Container mit flüssigem Stickstoff und warteten bei minus 196 Grad auf ihre große Stunde. Und die schlug nun auch den verbliebenen Rotviehkühen – sie wurden an Uwe angepaart. 1985 wurde im Vogelsberg ein Verein gegründet. Wilhelm Pabst und andere Enthusiasten hatten sich die Erhaltung des Roten Höhenviehs auf die Fahnen geschrieben. Auch im östlichen Zuchtgebiet wehte frischer Wind. Auf den Tag genau vor zwanzig Jahren kam es zur Wiedervereinigung des Zuchtgebietes, zunächst auf dem Papier.

„1989 gab es im Osten kein einziges Rotvieh mehr. Einige Züchter erinnerten sich an das Rote Höhenvieh, das sie noch von den Großeltern kannten und kauften in Hessen oder Niedersachsen einige Tiere. Die Zuchtbetriebe hatten zunächst eigene Sorgen, sie mussten erstmal auf die Füße kommen und eine stabile Wirtschaft aufbauen“, so Gernot Pohl, Verantwortlicher beim Rinderzuchtverband Sachsen-Anhalt.

Ab 1995 wird im Ostharz das Rote Höhenvieh offiziell wieder gezüchtet. Zum Beispiel in der Gemeinde Tanne, wo sich Familie Thielecke mit der Harzziege und dem Harzer Fuchs, einem rötlichen Hütehund, und eben dem Roten Höhenvieh den regionalen, vom Aussterben bedrohten Tieren widmet. Im hofeigenen Laden duften Schinken, Fleisch und Würste vom Harzer Roten Höhenvieh in Bio-Qualität. 1996 kommt es zu einer weiteren wenig bekannten Vereinigung. Bei dieser schließt sich die Westharzer, also niedersächsische Züchterschaft dem Rotviehprogramm des Landes Sachsen-Anhalt an. Rotviehhalter hüben und drüben erhalten eine EU-Prämie aus einem Fonds für vom Aussterben bedrohte Tiere.

Das Rote Höhenvieh vereinigt alles in sich, was man von einer Kuh erwarten kann. Aber eigentlich kann sie nichts so richtig gut. Während hoch gezüchtete Milchkühe um die 10.000 Liter Milch im Jahr geben, gibt das Rote Höhenvieh zwischen 5.000 und 6.000 Liter von sich. Es wird nicht in Hinblick auf Fleischmenge, sondern auf Qualitätsfleisch gezüchtet und bringt zur Schlachtung mit etwa 18 Monaten um die 700 kg auf die Waage, während bei Fleischrindern mit 1.000 kg Gewicht die Schlachtausbeute wesentlich höher ausfällt. Aber etwas muss ja an ihr dran sein und das reicht für einen Lobgesang. Darin ist von Leichtfüttrigkeit die Rede, was nichts anderes heißt, als dass die Kuh mit dem vorlieb nimmt, was sie findet. Im Unterschied zu mäkligen Schafen sieht eine Wiese nach dem Besuch von Rotvieh aus wie gemäht. Auch Leichtkalbigkeit und Mütterlichkeit werden ins Feld geführt. Die ganze Herde passt auf die Kälber auf und jagt Luchse oder streunende Hunde davon. Die 140 Tiere von Uwe Thielecke stehen nur im Winter im Stall, im Sommer reicht ihnen der Schatten von Bäumen als Unterstand. Das Rote Höhenvieh hat ein gutes Gangwerk, wird also nicht so schnell fußlahm. Es ist robust und langlebig und der Tierarzt verdient nicht viel an ihm.

Über 1.100 Höhenrinder stehen heute in Ost und West rotfellig vor grüner Landschaft. Sie alle besitzen den gleichen Urahn, den legendären Uwe. Man spricht von der U-Linie. Da unter diesem Umstand Inzucht vermieden werden muss, kommt eine Online-Datenbank zum Einsatz, mit der die Verwandtschaftsgrade festgestellt werden können. Bei einer Herde von 10-20 Tieren überlegt man sich, einen eigenen Bullen anzuschaffen. Ansonsten sorgen Zuchtbullen wie Ulius, ein Urenkel von Uwe, gezielt für Nachwuchs. In seinem Profil heißt es: „Ulius ist ein exzellenter Bulle mit sehr viel Typ und einer bestechenden Bemuskelung. Besonders auffallend sind die sehr breite Rippe, das breite Becken und die korrekten Fundamente bei insgesamt harmonischen Übergängen.“

Auch bei Nebenerwerbslandwirten wird das Rote Höhenvieh immer beliebter. „Wenn jemand zwei, drei Kühe halten will und ein bisschen grün angehaucht ist, nicht soviel Aufwand haben will und doch eine besondere, lokale Rasse, dann kommt er auf das Rote Höhenvieh“, meint Gernot Pohl, Zuchtleiter in Sachsen-Anhalt. Er kann mit Fug und Recht behaupten: „Es ist eine Rasse im Aufwind.“

Und die Moral von der Geschichte? Ach wie gut, dass es die Wende gab. Und: Tut es dem Rotvieh gleich. Seid charaktervoll und anspruchslos und mehret Euch.


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