Liebe in Lila

Julia Lehmann stellt mit „Sagt Lila“ in den Cammerspielen die Migrationsdebatte in einen Neuköllner Kontext

Ein Unschuldsengel ist die zierliche Neuköllnerin Lila mit dem gleichfarbigen Kleid weiß Gott wirklich nicht. Auch wenn sie durch ihre goldenen Löckchen, das verschmitzte Grinsen und den schmalroten Mädchenmund so wirken mag. Viel lieber frönt sie jeder erdenklichen Art von sexueller Ausschweifung. Je wilder, desto besser und je anstößiger, desto reizvoller.

Das klingt nach einem Versuch von Soap-Dramaturgen, ein Vorabendprogramm zwischen Dschungelcamp und DSDS zu gestalten. Wäre da nicht noch jemand, der für die Geschichte unverzichtbar ist. Chimo, ein Araber aus der Nachbarschaft, für den Lila mehr übrig hat, als sie ihm und sich selbst gegenüber zugestehen will. Auch der junge Mann verliebt sich Hals über Kopf in das nymphomanische Mädchen. Beide leben in einer Großstadtwelt, deren Dreck auch nicht die kurzlebige Ablenkung des Fernsehens verdrängt werden kann.

Die Diener einer solchen Ablenkung, schwere TV-Apparate, stehen auf der Bühne verteilt. Sie präsentieren wild zusammengeschnittene Auszüge der Medien, nervtötend laut wiederholt sich die Schleife aus Film- und Fernsehschnipseln. Auch für Szenenwechsel wie eine Fahrradfahrt durch das lebendige Berlin werden die Geräte eingesetzt.

In der Mitte der Bühne, direkt an der steinernen Hauptsäule, prangt ein bunt blinkendes Jesusbild, verkitscht bis ins Mark. Symbolisch leuchtet es auf, wenn die bigotte Tante, bei der Lila aufwachsen muss, in fanatischem Religionseifer die Bühne betritt. Schnell wird dann der einstige Chimo durch einen Kleiderwechsel und das Aufsetzen einer weißen Perücke zum Beelzebub-austreibenden Tantchen.

Mit dieser heuchlerischen Kiezwelt und ihrem Dreck klarzukommen, ist hart. Chimo und Lila haben dafür zwei unterschiedliche Methoden des Überlebens gefunden. Während Chimo seine Verzweiflung hinaus brüllt und an den Missständen, der Kriminalität und Herzenskälte seiner Umgebung beinahe zerbricht, sucht Lila händeringend in Orgien nach Geborgenheit und mimt konsequent die Souveräne, bis auch ihre Schale zu bröckeln beginnt. Zugleich bringt sie Chimo mit ihrer ungehemmten Zuneigung, dem offenen Umgang mit ihren Sehnsüchten völlig aus dem Konzept. Dabei wippt sie wie ein kleines, unschuldiges Kind auf einem an Seilen befestigten Fernsehapparat beschwingt hin und her.

Die Akteure interagieren eng miteinander und zeigen damit ihre gegenseitige Liebe überzeugend. Zugleich suchen sie häufig den Kontakt zum Publikum, drehen sich zur Menge und entladen ihre angestaute Frustration wie einen Feuersturm mit schriller Stimme und viel emotionaler Gestik.

Die Romanadaption in ihrer Gesamtheit ist schrill, aggressiv und hektisch – zu viel von alledem. Zwar ist der Begriff Neukölln sogar deutschlandweit eine Argumentationswaffe in jeglichen Debatten über Migration, Integration und Arbeitslosigkeit geworden. Neukölln als Mahnmal, als Zukunftsschreckgespenst. Doch ist die Lage im Bezirk wirklich mit den chaotischen Zuständen in den französischen Banlieues, in denen der Roman angesiedelt ist, zu vergleichen? Hinzu kommt die Frage, ob es wirklich nur an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen liegt, dass sich dieser Berliner Mikrokosmos, ein Kreislauf von Kriminalität und Respektlosigkeit, tagtäglich neu bildet. Ob sich daraus nicht aussteigen lässt. Oder um es für den Massengeschmack servierfertig zu machen – Wie viel Sarrazinisches Gedankengut der Wahrheit entspricht. Denn all das würde bedeuten, dass Menschen in einem solchen Kiez Opfer sind.

Sagt Lila deckt die eigentliche Problematik eines solchen Lebens auf – was nämlich Perspektivlosigkeit und Zwangsabnabelung von der Gesellschaft wirklich verhindern – eine menschenwürdige, geborgene Existenz. Die Botschaft erreicht, allerdings wäre dafür etwas weniger Lärm auch gut gewesen.

Sagt Lila

Regie: Julia Lehmann
Spiel: Bilal Narat, Katrin Wiedemann

Premiere: 15. Januar 2011, Cammerspiele Leipzig

www.cammerspiele.de

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