Du denkst, du bleibst für immer

Yüksel Yolcu skizziert in „Der Junge mit dem Koffer“ den Weg eines Flüchtlingsjungen

Wo Fantasie so im Mittelpunkt steht, da braucht es nicht viele Requisiten (Fotos: Tom Schulze)

Wie viele Menschen kennst du? So richtig meine ich, nicht bei facebook. Fünf vielleicht? Mehr wohl kaum. All die Tanten, Cousins und Schwager zählen nicht, wer kennt die schon wirklich? Also sagen wir fünf. Eine annehmbare Zahl. Doch kannst du dir vorstellen, wie eine Masse von 100.000 Menschen aussieht? Was jeder Einzelne denkt, wie es jedem geht?

In den vergangenen zwei Wochen haben circa 100.000 Menschen ihre Heimat Libyen verlassen. Oft nur das Nötigste bei sich, all ihre Habseligkeiten zurücklassend, machen sie sich auf den Weg ins Ungewisse. Angst und Gefahr sind die ständigen Wegbegleiter, doch was wissen wir schon davon? 100.000 Menschen, eine unbegreiflich Zahl, Flucht noch unbegreiflicher für uns. Doch wenn man aus dieser Masse, allen Flüchtlingen, überall auf der Welt, zu jeder Zeit, einen kleinen Jungen herausnimmt, sich seinen Weg ansieht und mit ihm fürchtet und hofft, vielleicht wird gerade dann erst das Ausmaß deutlich.

Yüksel Yolcu hat sich dieser Geschichte angenommen. Er inszeniert am Theater der Jungen Welt die Reise des Jungen Naz (Moritz Gabriel), der allein, ohne Eltern und Geschwister, fliehen muss vor den Schüssen in der Ferne, die immer näher kommen. Alles, was er bei sich hat, sind ein Koffer und seine Geschichten. Geschichten, die ihm sein Vater erzählte, jeden Abend, bis er einschlief: die Abenteuer des Seefahrers Sindbad. Der gebürtige Türke Yolcu inszeniert eine Reise, die durch die Fantasie des Erzählens Farbe findet und die jungen Zuschauer so anspricht. Angelehnt an die sieben Reisen Sindbads bestreitet Naz seinen Weg Richtung Europa: nach London, zu seinem Bruder. Gemeinsam mit seiner zeitweiligen Weggefährtin Krysia (Anke Stoppa) muss er viele Gefahren überwinden, doch das Geschichtenerzählen ist es, was ihnen immer wieder Trost spendet und zu neuen Ideen verhilft.

Und wo Fantasie so im Mittelpunkt steht, da braucht es auch nicht viele Requisiten. Die Kleine Bühne genügt als Schauplatz, Boden und Wände sind mit Tafelplatten verkleidet. Es wird erzählt und gezeigt. So reicht ein Rechteck – mit Kreide auf den Boden gezeichnet – aus, um ein Bett erscheinen zu lassen. Daneben ein Tisch, eine Uhr. Ein großes blaues Tuch ergibt zusammen mit einer Planke ein Boot, und verwandelt sich in der nächsten Sekunde in das tosende Meer, welches die beiden Kinder zu verschlingen droht.

Ob der gerade von neuer Aktualität strotzende Inhalt die jungen Zuschauer über Gänsehautstimmung hinaus weiter begreifen lässt, ist dabei leider fraglich. Zu abstrakt und weit weg erscheinen die Geschehnisse. Menschenhändler, Flüchtlingslager, Zuhälter, Kinderarbeit (Martin Klemm in verschiedenen Rollen). Das alles sind den Kindern sicher keine unbekannten Themen, doch war die Fülle an (realen) Gefahren so groß, dass es am Ende für viele doch wohl „nur ein Besuch im Theater“ bleiben wird.

Vielleicht, um dem entgegenzuwirken, um dem Thema mehr Persönlichkeit zu verleihen, bekommen die Zuschauer einen kleinen Koffer, so groß wie eine Streichholzschachtel. Darin Zettel mit Fragen und Anregungen: „Wenn du dein Zuhause verlassen müsstest, mit drei Dingen in deinem Koffer, welche wären das?“ Ein guter Einstieg, darüber nachzudenken, was wäre, wenn man doch nicht für immer bleiben könnte.

Der Junge mit dem Koffer

von Mike Kenny

R.: Yüksel Yolcu

D: Moritz Gabriel, Anke Stoppa, Martin Klemm

Premiere: 26. Februar 2011, Theater der Jungen Welt


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