01:17 bis zum Weltenbrand

Peter Konwitschny und Ulf Schirmer bringen am Leipziger Opernhaus Richard Strauss „Elektra“ zur umjubelten Premiere

Ein Kind fehlt, Iphigenie … (Fotos: Andreas Birkigt / Oper Leipzig)

Familien-Idylle im Hause der Atriden: Liebevoll planscht der Vater mit seinen drei Kindern in der Badewanne, es wird mit einer Wasserpistole herumgeschossen und um die Wette getaucht. Wer gewinnt? Die Ältere natürlich, Papas Liebling. Ihr Bruder zieht den Kürzeren, die jüngste Schwester traut sich erst gar nicht so recht.

Doch ein Kind fehlt, Iphigenie. Sie wurde im Trojanischen Krieg den Göttern geopfert von Agamemnon, ihrem eigenen Vater, der die Tat offensichtlich verdrängt hat. Ganz im Gegensatz zu seiner Frau Klytämnestra. Argwöhnisch lächelnd beobachtet sie die Albereien, pustet zur Ablenkung noch ein paar Seifenblasen in die Luft, dann wirft sie ein Netz über Agamemnon, der von ihrem Liebhaber Aegisth mit dem Beil erschlagen wird. Die beiden jüngeren Kinder können fliehen, die Schwester aber sitzt mit dem Vater in der Wanne und muss die Tat aus nächster Nähe mit ansehen, ihre Schreie gehen in das einsetzende Orchester über.

Ganz klar, wen wir hier als Kind sehen: Elektra, populäre Tragödin der klassischen Mythologie. Das Schicksal jener Frau, die den gewaltsamen Tod ihres Vaters Agamemnon nicht verkraftet und ihren Bruder Orest zum Muttermord anstiftet, wurde in der abendländischen Kultur über Jahrhunderte hinweg immer wieder aufgegriffen. Eine der populärsten Adaptionen, Richard Strauss’ und Hugo von Hofmannsthals Elektra, erlebte jetzt an der Oper Leipzig ihre Premiere – in einer Inszenierung von Chefregisseur Peter Konwitschny und unter der musikalischen Leitung des Generalmusikdirektors und designierten Intendanten Ulf Schirmer.

Elektra dient häufig als Archetypus zur Deutung einer extremen Vater-Tochter-Bindung – Siegmund Freud und C.G. Jung lassen grüßen. Doch die Entstehung von Strauss’ und Hofmannsthals im Jahre 1909 uraufgeführten Einakters fällt allgemein in brisante Zeiten: Am Vorabend des Ersten Weltkrieges befinden sich die Moderne und ihr Menschenbild in der Krise, überkommene politisch-gesellschaftliche und künstlerische Systeme sind ins Wanken geraten. Konwitschny beschränkt sich in seiner Inszenierung deshalb nicht auf eine (küchen-)psychologische Aufarbeitung des so genannten Elektra-Komplexes, mag auch ihr blutüberströmter Vater in der Badewanne omnipräsent sein. Er zeigt vielmehr eine korrupte Gesellschaft, der längst verbindliche Werte abhandengekommen sind: Eine kühle, verspiegelte Lounge mit weißer Sitzgruppe im postmodernen Chic, dieses mythologische Mykene ist unserer eigenen Erfahrungswelt gar nicht so fern und steuert – der Countdown auf der düsteren Wolkenprojektion im Hintergrund lässt daran keinen Zweifel – unweigerlich der eigenen Implosion entgegen. 01:17 prangt bedrohlich in roten Ziffern, so viel Zeit verbleibt bis zum nächsten vorherbestimmten Gemetzel. Die Mägde beseitigen noch eilig die Spuren vom letzten Blutbad, Chrysothemis Puppe landet kopfüber im Putzeimer, nur der tote Agamemnon selbst wurde dabei irgendwie vergessen.

Schnell wird klar: Wer sich der restriktiven Ordnung nicht anpasst, wird nicht geduldet. Elektra zum Beispiel: In Jeans und Schlabber-Shirt wählt sie für sich bewusst die Rolle der Außenseiterin. Rache an den Mördern Agamemnons scheint das einzige Gefühl zu sein, das sie sich zugesteht, wahnhaft tanzt sie mit dem Beil auf dem Tisch. Für die Warnungen Chrysothemis, die sich selbst in der Hoffnung auf ein normales Leben mit den Verhältnissen arrangieren will, hat sie nur Spott übrig. Und doch, für einen Augenblick lässt sie sich von dem erträumten „Weiberschicksal“ ihrer Schwester mitreißen, umarmt sie und sucht Schutz in ihrem Schoß, um sie gleich darauf brüsk von sich zu stoßen. Die Heroin Elektra, Konwitschny gesteht ihr über das Libretto hinaus Momente der Schwäche, der Verletzlichkeit zu, was die Unausweichlichkeit, mit der sie ihren Racheplan bis zur finalen Katastrophe verfolgt, nur umso tragischer erscheinen lässt.

Auch in der Begegnung mit Klytämnestra wird nach anfänglichen Irritationen ersichtlich: Ganz so fremd sind sich Mutter und Tochter nicht, zwischenzeitlich amüsiert man sich sogar beim gemeinsamen Whiskey, der unermüdlich unter dem Couchtisch hervorgeholt wird, über die Albträume der Mutter. Beide haben aber offenbar nie gelernt, ihre Empfindungen und Bedürfnisse in produktive Bahnen zu lenken und verfallen prompt in ihre gewohnten Verhaltensmuster, nicht bemerkend, wie sich unterdessen der tote Agamemnon zu ihnen auf die Couch gesellt hat. Als Elektra von ihren Racheplänen berichtet, sind sich die Gatten ausnahmsweise kopfschüttelnd einig. Letztendlich ist es Agamemnon, der seiner Tochter das gehobene Beil aus der Hand nimmt und Klytämnestra die Nachricht vom vermeintlichen Tode Orests überbringt – wenn schon an den Verhältnissen nichts zu ändern ist, soll sich das Fatum wenigstens nach Plan erfüllen.

Zur Schlüsselszene gerät die Begegnung zwischen Elektra und dem totgeglaubten Bruder: In Konwitschnys Lesart ist Orest kein strahlender Held, sondern eher ein Zwangsneurotiker, der emotionslos auf die Rolle des Muttermörders hin erzogen wurde. Immer wieder zuckt er resignierend zusammen, ein mahnender Blick des autoritären Pflegers genügt, um ihn an das bevorstehende Amt zu erinnern. Gerade in der Wiedererkennung der Geschwister erlangt die ohnehin sehr dichte Inszenierung ihre vielleicht eindringlichsten, intensivsten Momente. Elektra, erschrocken darüber, dass mit diesem psychisch Zerrütteten auch die Erfüllung ihres Racheplanes vor der Tür steht, will sich dem Bruder entziehen und gleitet – in ihrem Sessel verhaftet – rücklings dem Proszenium zu. Die beiden finden an der Leiche des Vaters aber doch zueinander und Konwitschny gewährt ihnen einen Augenblick der Vertrautheit, ja der Liebe, die sonst in ihrem Leben zu kurz gekommen ist. In der Badewanne findet Orest die Wasserpistole aus Kindheitstagen und zwischen all der Trauer, dem Wahn und Entsetzen über die bevorstehende Tat schwingt bei ihnen die Erinnerung an längst vergangene glücklichere Tage mit.

Dem vorgezeichneten Weg können sie jedoch nicht mehr entkommen und von nun an geht alles rasend schnell: Der Pfleger tauscht eilig das Beil, an dem Orest Halt sucht, gegen eine geladene Pistole aus. Alsbald sind Schüsse zu hören und Klytämnestra taumelt – nach furiosem Todestanz – zu dem Gatten in die Badewanne. Vorsichtshalber gibt ihr Elektra noch ein paar Schläge mit dem Beil hinterher, der Countdown bleibt stehen.

Eine historische Stunde Null? Nachdem auch an Aegisth die Rache vollstreckt wurde, erstrahlt am nächtlichen Himmel ein Feuerwerk, doch es wird nicht nur Salut geschossen: Zu den »Orest«-Jubelrufen des Chores fallen erst die Mägde und Dienerinnen Klytämnestras, später werden die Opfer immer wahlloser. Maschinengewehrsalven tönen in die höchste Verklärung der Musik, die Niederwerfung der Tyrannei artet in ein verheerendes Massaker aus. Letztendlich trifft der neue Despot auch die eigenen Schwestern. Entsetzt über Elektras manische Entrückung will Chrysothemis entfliehen. Ein letztes Klopfen gegen die Spiegeltür, dann sinkt auch sie, auf der Tantalos’ Fluch am wenigsten lastete, entseelt zusammen, während die Uhr in Beschleunigung der Endzeit entgegenläuft.

Dieser Weltenbrand am Schluss mag in seiner Drastik verstören, im Konzept der Inszenierung ist er allerdings mehr als stringent. Schon Strauss wollte mit seiner Elektra „Winckelmannschen Römerkopien und Goethescher Humanität“ ein archaisches, dämonisches Griechentum entgegenstellen. Und Konwitschny zeigt nun, wie im Geschlecht der Atriden der Fluch von einer Generation auf die nächste übertragen wird – nicht durch göttliches Fatum, sondern weil die Protagonisten dieser Sage Kinder ihrer eigenen Verhältnisse sind, sich das Milieu reproduziert. Keine Frage, das gesellschaftliche System, für das Mykene die Chiffre bildet, krankt und gehört erneuert. Die Geschichte lehrt aber auch, dass nicht jeder gefeierter Regimewechsel die an ihn gerichteten Erwartungen erfüllt, dass die Kulturgüter der Sieger – um mit Walter Benjamin zu sprechen – häufig eben auch Dokumente der Barbarei sind. Konwitschny erzählt dies differenziert und ohne Schwarzweißmalerei über seine Figuren, beginnend mit dem zuerst amüsanten Vorspiel. So wird nicht nur Elektras und Orests Motivation nachvollziehbar, es erinnert auch daran, wie Klytämnestra zu jener Frau wurde, als die sie in die Mythologie eingegangen ist.

Getragen wird diese Elektra von Protagonisten, die nicht nur die hohen musikalischen Anforderungen bravourös meistern, sondern auch schauspielerisch eine ideale Besetzung sind: Für die Titelpartie konnte Janice Baird gewonnen werden, die als Elektra erst kürzlich an der Wiener Staatsoper reüssierte. An der Oper Leipzig ist Baird keine Unbekannte, vor einigen Jahren war sie hier als Salome zu erleben. In der Zwischenzeit hat sie sich zu einer gefragten Sängerin im hochdramatischen Fach entwickelt, die mit ihren stimmlichen Reserven gut zu haushalten weiß. Die expressiven Passagen gelingen ihr genauso mühelos wie der verklärende Schlussgesang, ohne dass ihre Stimme dabei Zeichen von Anstrengung erkennen ließe. Und in ihrem Spiel lässt sie immer wieder Nuancen der Verletzbarkeit, der Sehnsucht aufblitzen, die das bedingungslose, nahezu entweiblichte Vorgehen, mit dem Elektra ihren Plan verfolgt, als schützende Maske entlarven.

Das sorgt vor allem in der Gegenüberstellung der beiden Schwestern für Spannung: Gun-Brit Barkmin, noch in allerbester Erinnerung als Elsa in Konwitschnys Lohnegrîn-Inszenierung, verkörpert glaubhaft die mädchenhafte Chrysothemis, die mit ihrem utopischen, aber nachvollziehbaren Wunsch nach einem erfüllten Leben überall aneckt. Ihr Debüt als Chrysothemis kommt genau zur richtigen Zeit, allen Anforderungen zum Trotz bewahrt sie ihrer Stimme einen jugendlichen, mitunter fast lyrischen Klang – an der Oper Leipzig sollte man sich Barkmin unbedingt für weitere Aufgaben warm halten. In einer Paraderolle ist Doris Soffel zu erleben, die zwischen dämonischem Sprechgesang und lasziver Ekstase Klytämnestras Paranoia fulminant Ausdruck verleiht. Ihr grotesker, fast medusenhafter Freudentanz auf die Nachricht vom Tode Orests ist nicht in Worte zu fassen.

Den drei Damen in nichts nach steht Ensemblemitglied Tuomas Pursio, der sich in den vergangenen Jahren zu einem Sänger-Akteur erster Güte entwickelt hat. Gesanglich makellos wächst Pursio, ein schauspielerisches Naturtalent, in der Zusammenarbeit mit Konwitschny noch über sich hinaus: Sein Orest ist ein Junge in Mannesgestalt, der an seiner (Lebens-)Aufgabe verzweifelt, aus den vorgegebenen Mustern aber auch nicht auszubrechen vermag. Pursio gestaltet diesen Zerrissenen mit einer Intensität, der man sich nicht entziehen kann.

Keine Einwände beim Aegisth, den Viktor Sawaley souverän als Karikatur des eitlen Despoten anlegt, die kleineren Rollen konnten formidabel aus dem eigenen Ensemble besetzt werden und der von Stefan Bilz einstudierte Chor besticht in seinem kurzen Auftritt mit gewohnter Spielfreude.

Mit Ulf Schirmer steht einer der profiliertesten Dirigenten des Oeuvres von Richard Strauss am Pult. Dessen Bühnenwerke gehörten in den vergangenen Jahren nicht gerade zum Kernrepertoire der Oper Leipzig, unter der Leitung von Schirmer beweist das Gewandhausorchester in puncto Präzision und Klangkultur allerdings, dass es den Vergleich mit den Kollegen in Wien oder Dresden keinesfalls zu scheuen braucht. Mit Elektra ist der Höhepunkt der Symphonie-Oper erreicht, 111 Musiker fordert die Partitur, die im Graben der Oper Leipzig in Originalbesetzung gespielt wird. Trotzdem wahrt Schirmer in seinem Dirigat äußerste Transparenz, ganz egal, ob sich das Orchester in albtraumhaften Passagen gerade an die Grenzen der Harmonik vorarbeiten muss oder ein silbriger, fast transzendenter Strauss-Sound gefordert wird.

Das alles lässt hoffen für die Zukunft. Obwohl es in den letzten drei Jahren am Augustusplatz einige Höhepunkte gab, die erst im Nachhinein kleingeredet wurden, zeigt diese Produktion, dass die Oper Leipzig durch eine enge Verzahnung von Musik und Szene durchaus in der ersten Liga mitspielen kann. Da stört es auch nicht weiter, dass Konwitschnys Inszenierung bereits 2005 für Kopenhagen und Stuttgart entstanden ist – die differenzierte, dichte Interpretation wird noch eine ganze Weile ihre Gültigkeit behaupten, handwerklich ist die Leipziger Neueinstudierung ohnehin über jeden Zweifel erhaben. Und: Die Produktion fügt sich dramaturgisch wunderbar ins hiesige Repertoire. Auch wenn zwischen Christoph Willibald Gluck und Richard Strauss Welten liegen, wird – nicht zuletzt über das Badewannen-Vorspiel – der rote Faden von Konwitschnys „Gluck-Ring“ weitergesponnen. Endete Iphigenie in Aulis mit der beilschwingenden Klytämnestra, so werden in Elektra die Voraussetzungen für Iphigenie auf Tauris geschaffen – man darf also gespannt sein, wie es mit den Atriden in der nächsten Saison weitergeht.

Das Premierenpublikum feierte die Produktion jedenfalls mit verdientem, bald 15 Minuten andauerndem Jubel, in dem eine Handvoll Buhs für die Regie – sie waren vermutlich politisch motiviert – nicht weiter ins Gewicht fällt. In dieser Spielzeit ist Elektra noch am 1. Mai sowie 13. und 18. Juni zu erleben – unbedingt hingehen.

Elektra

Musikalische Leitung: Ulf Schirmer

Inszenierung: Peter Konwitschny
Mit: Janice Baird (Elektra), Doris Soffel (Klytämnestra), Gun-Brit Barkmin (Chrysothemis), Tuomas Pursio (Orest), Viktor Sawaley (Orest), u.a.

Premiere: 16. April 2011, Oper Leipzig


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