Fröhliche Rasenlatscher

Die niederländische Künstlerin Anna Hoetjes ließ im Zentralstadion die Massenchoreografie der Turn- und Sportfeste neu entstehen

Frisch, fromm, fröhlich, frei (Fotos: Tobias Prüwer)

Es gibt eine regelrechte imperiale Arbeit der Täuschung, der Vernebelung und der Ausrichtung von Körpern auf Abwesenheiten, Unmöglichkeiten. Die Wirkung ist weniger unmittelbar, aber dafür viel dauerhafter. Im Laufe der Zeit und durch viele kombinierte Effekte wird MAN schließlich die angestrebte Entwaffnung der Körper und insbesondere das Immunsystems erreichen.
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2. Juni, Zentralstadion. Rund 150 Rasenlatscher statten dem Grün einen sportlichen Besuch ab. Es ist kein Platzsturm von Fans einer unterklassigen Fußballmannschaft, die sich im Herzstück des Stadions versammelt haben. Sie sind Teilnehmer des Kunst-Projekts »Turn!«, zu dem Anna Hoetjes gerufen hat. Eine Massenchoreografie wollte die in Amsterdam geborene Performance-Künstlerin gemeinsam mit angepeilten 2.000 Menschen aufführen und filmischen dokumentieren – und zwar nicht als bloße Reminiszenz an sozialistische Sportspiele.

Wie bringt man eine Masse Menschen in Bewegung? Das war Hoetjes’ Leitfrage. Und das ganz freiwillig, denn es locken weder Risiken noch Preise, kein Geld und keine Ideologie. Hoetjes musste Menschen für ihre Idee gewinnen. Sportler sind darunter, Künstler und Studierende, junge Leute, aber auch Ältere, welche die gigantischen Turnfeste der DDR hier selbst miterlebt und mitgestaltet haben. Zusammen mit der Choreografin Heike Hennig hat sie eine Bewegungsfolge erdacht. In Kleingruppen wurde diese über die vergangenen Monate einstudiert, die nun zu einem riesigen körperlichen Kollektiv vereint werden sollten. Warum ihre Zahl letztlich nur ein Zehntel der ursprünglich angestrebten 2.000 Menschen blieb, lässt sich schwer sagen. Ein paar Spontane wurden am Zentralstadion abgewiesen, denn der gestrenge Sicherheitsdienst gewährte nur jenen Einlass, die sich vorher angemeldet hatten. Das überaus üppige Sonnenwetter mag auch ein paar Leute vom Mitturnen abgehalten haben. Und vielleicht zeigten die immer wieder hörbaren Vorwürfe, Hoetjes betreibe sozialistisches Reenactment, ihre Wirkung. Auch wenn die Musik stellenweise an Popgymnastik erinnerte: Das war nicht der Plan der Künstlerin, die über die Monate allerdings einen kleinen Wandel zeigte und die Performance irgendwann als „unpolitisch“ – was auch immer das ist – bezeichnete.

So blieb vom turnend-tanzenden Riesenkollektiv nicht viel übrig und vom Rand aus betrachtet gestaltete sich das Massenfestspiel mäßig. Gen Ende gab es einen kurzen, spontanen Moment, der mit Esprit das geordnete Bewegungsfeld durchbrach und individuelle Lebensfreude zum Ausdruck brachte. Nach diesem Flashmob-Intermezzo aber war’s dann wieder vorbei mit den ansehnlichen Vereinzelungstaktiken. Immerhin hatten die Teilnehmenden Spaß an der Sache und nahmen den Filmdreh – darauf konzentrierte sich letztlich der Aufwand – olympisch. Ums mit den Worten von Heike Hennig zu sagen: „Lust auf Moving, Kontakt, Begegnung in Bewegung, Menschen zusammen, tanzen, trinken, essen. Das sind Erlebnisse, die im Leben zählen, an die man sich gern erinnert. Friedliche Massen ohne Druck von außen – ein Privileg unserer Zeit.“

Turn!

Sport- und Kunstereignis

2. Juni 2011, Zentralstadion

www.turn-leipzig.org

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