Aus der Jackentasche eines Fremden

Der Objekttheaterkünstler Gyula Molnàr ist mit seinem Stück „Asche“ im Westflügel zu Gast

Gyula Molnàr (Fotos: Heinrich Hesse / PR)

Er hat das Objekttheater in seiner Entwicklung nicht nur entscheidend beeinflusst, sondern mit seinem Spiel auch Poesie auf die Bühne gebracht. Gyula Molnàr, 1950 in Ungarn geboren, zählt heute zu den wichtigsten Vertretern des Material- und Objekttheaters und ist in Deutschland vor allem durch sein Stück Drei kleine Selbstmorde bekannt geworden. Im Januar ist er nun mit Asche im Lindenfels Westflügel zu Gast, und bringt Groß und Klein zum Lachen und Nachdenken. Ursprünglich war es der dänische Theatermacher Ray Nusselein, welcher dieses Stück gemeinsam mit Molnàr entwickelte. Nun, nach Nusseleins Tod, erarbeitete Molnàr eine deutsche Fassung für Kinder ab acht Jahren.

Verwirrt wirkt er, der Mann, der die Bühne betritt. Verwirrt und irgendwie unsicher in seinem unförmigen, schmutzigen Mantel. Aber dann nimmt er sein Programm routiniert auf, sagt anständig „Guten Abend“, verbeugt sich, und erklärt, dass er an dieser Stelle eigentlich immer eine berührende Geschichte erzählt. Und das macht er dann auch. Es ist die Geschichte einer schönen, kleinen Stadt. Umgeben von wogenden Weizenfeldern. Eine Stadt, deren Einwohner den Krieg nicht kennen, ihn aber sofort auszumachen in der Lage sind, als er sie erreicht. Immer näher rückt er an die Stadt heran, der Krieg, wütet und zerstört. So wird das goldene Getreide niedergebrannt, und die Stadt gestürmt. Die Kinder des Ortes retten sich auf die alte Eiche und wimmern vor Angst. Als die kläglichen Laute den ganzen Baum erzittern lassen, reißt er vor Mitleid seine tiefen Wurzeln aus der Erde, und läuft mit den kleinen Passagieren in den Wald davon. Doch auch als die Feuer gelöscht und die Schrecken des Krieges vertrieben waren, die Kinder kehrten nie zurück. Und da endet die Geschichte. Vorerst.

Noch bevor man die Chance hat, über die Erzählung nachzudenken, greift der Mann auch schon zur Tuba, die genauso verbeult und alt ist, wie der Mantel, den er trägt. Der Blumenstrauß, welcher im Schallbecher des Instruments steckt, hindert ihn dabei nicht beim Spielen. Er befeuchtet seine Lippen, bläst mehrfach hinein, beginnt zu marschieren – und stolpert über den großen Koffer in der Mitte der Bühne. Immer wieder setzt er zum marschieren an, immer wieder stolpert er unbeholfen über den Koffer. Schließlich platzt es heraus: „So kann das nicht weitergehen!“. Und dann rückt er mit der ganzen Wahrheit raus, verzweifelt und ratlos erzählt er: die Sachen auf der Bühne – der Koffer, die Vorhänge, selbst die Löcher im Boden – die gehören ihm alle nicht. Sie gehören dem Mann, der hinter den Vorhängen auf dem anderen Koffer sitzt. Dem Mann, den man vorher nicht einmal bemerkt hat, der aber nun durch ein geschicktes Wegziehen der Vorhänge zum Vorschein kommt. Unbeweglich sitzt er mit dem Rücken zum Publikum da, und man ist gewillt zu glauben, dass es sich beim ihm um eine Puppe handelt. Bis er sich dann doch bewegt. Dieser Umstand also, dass da ein Mann sitzt, der da wohl nicht hingehört, ist schnell erklärt: Nur mal eben auf die Toilette wollte der Spieler, bevor das Publikum an die Tore klopfte. Und als er wieder zur Bühne tippelt, schnell, denn er hat nur Unterwäsche an, sitzt da dieser Mann. Auf dem Koffer mit den Kostümen. Und dann kamen auch schon die Zuschauer. Was blieb dem Gehetzten da anders übrig, als den Mantel des Mannes anzuziehen, der auf dem Bügel hing, und seine Show weiterzumachen? Dies alles gesteht er dem Publikum nun also, und er wirkt dabei so authentisch, dass man fast denken könnte, die Geschichte gehöre nicht zum Stück. Unsicher läuft er immer wieder hin und her, als fühle er sich tatsächlich fremd zwischen den ganzen Sachen, die ja nicht ihm gehören.

Im weiteren Verlauf versucht er nun herauszufinden, wer der Fremde ist. Da er dessen Mantel trägt, liegt es natürlich nahe, erst einmal in die Taschen zu sehen. Mag man sich als Zuschauer hin und wieder wundern, wann denn nun eigentlich die Objekte zum Einsatz kommen, die ein Objekttheater eigentlich ausmachen, wird hier klar: die wichtigste Requisite trug Molnàr die ganze Zeit am Körper. Der Mantel des Fremden ist Ausgangspunkt für alle Überlegungen zu dem Mann, der nicht unsere Sprache spricht, und auch nicht bereit ist, sich zu rühren. Vorsichtig untersucht der Spieler nun die Taschen, erklärt, was in seinem eigenen Mantel zu finden wäre. Dann lässt er eine Hand hinein gleiten, um sie gefüllt mit schwarzer Asche wieder ans Licht zu bringen. Durch den Inhalt der Taschen folgen wilde Rückschlüsse. So kann die Asche nur bedeuten, dass er Raucher ist. Schnell lässt er sie wieder zurückrieseln, und tastet sich systematisch weiter voran. Und die Eicheln in der Brusttasche weisen eindeutig darauf hin, dass der Mann arm ist und nur Eicheln zu essen hat. Da Eicheln dem Spieler aber nicht gut bekommen – er mag lieber Brote – sind auch sie bald wieder in dem Mantel verschwunden. So spinnt er sich Geschichten über den Unbekannten zusammen, die entlarven, wie voreilig und auf sich selbst bezogen die Menschen gerne über Fremde urteilen.

Durch Anspielungen dieser Art ist Asche nicht nur ein Stück, welches uns den Spiegel auf spielerische Art und Weise vorhält, sondern viel mehr als das. Ohne erhobenen Zeigefinger wird die Problematik des Fremdseins aufgegriffen, so dass jeder der Anwesenden gleichsam in der Lage ist, sich hineinzuversetzen in diesen Mann, der da mal weinend, meinst aber regungslos sitzt. So urteilen wir nahezu täglich über Dinge, ausgehend von unseren Gewohnheiten und Umgangsformen, und stellen unsere Welt als die absolute Urteilsinstanz dar. Dass es sich dabei aber oft um eine verzerrte Wahrnehmung handelt, wird gern vergessen. Kein einziges Mal versucht der Spieler herauszufinden, wo der Fremde denn eigentlich herkommt, und was ihn so weit weggetrieben hat. Dabei würde das das Rätselraten wahrscheinlich beenden. Lieber will er ihn von seinem Koffer runter haben, und versucht ihn mit dem Kinderspiel Reise nach Jerusalem zum Aufstehen zu bringen.

Ob Kinder nun in der Lage sind, diese komplexen Analogien zu verstehen, spielt dabei gar keine Rolle. Für sie sind die Zusammenhänge vielleicht nicht so weitreichend zu erkennen, doch können auch sie den Kern fassen. Und am Ende sind es vor allem die ungesagten Dinge, die erahnen lassen, was dem Mann zugestoßen ist. Sein Koffer ist leer, er besitzt nur ein Foto, das der Spieler mit Holzklammern an einer Wäscheleine befestigt, und die Vorhänge, welche einst mit viel Mühe per Hand gefertigt wurden.

Die Tränen, die Asche, das Familienfoto. All diese Dinge sind Eckpfeiler in der Geschichte des Mannes, die sicher keine fröhliche war. Wunder kommen in ihr gewiss auch nicht vor. Aber wo gibt es das schon, dass ein Baum Mitleid bekommt, und die Kinder wegträgt? In Sicherheit bringt? Sie sind nie wiedergekehrt. Langsam drängt sich ein schlimmer Verdacht auf. Doch das kommt sicher nur den Erwachsenen in den Sinn. Denn für Kinder gibt es sie, diese Wunderbäume!

Asche

R: Francesca Bettini, Gyula Molnàr

Mit: Gyula Molnàr, Jusuf Gulevski

Premiere: 7. Januar 2012, Lindenfels Westflügel


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