Kaputtes Familienalbum

Das Regieduo Köhler und Günther arbeiten in „Der Zementgarten“ entgegen dem Klischee

Fotos: Joachim Berger / Cammerspiele

Das klassische Bild von Familie ist heute lange überholt. Wo früher idealerweise Vater, Mutter und zwei Kinder die Normalität der westlichen Haushalte bestimmten, finden sich nun verschiedenste Konstellationen. Was aber passiert, wenn Vater und Mutter aus diesem Bild komplett verschwinden? Was, wenn nur Kinder übrig bleiben und, von ihrer eigenen Unsicherheit hin- und hergerissen, neue Machtstrukturen erschaffen müssen? Diesen und noch mehr Fragen gehen Christopher Köhler und Lisa Günther mit ihrer Inszenierung Der Zementgarten in den Cammerspielen nach. Textliche und inhaltliche Grundlage ist dabei der gleichnamige Roman von Ian McEwan. Bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts erschienen, stößt der vielgerühmte Roman mit seiner absurden und surreal wirkenden Darstellung einer Familie ohne Eltern noch immer auf großes Interesse. Diesen Stoff nun greift das Regieduo auf und bringt ihn auf die Bühne.

Der Zuschauer findet sich mitten im Geschehen wieder. Die alten Sofas und Kissen auf dem Boden, welche als Sitzmöglichkeit angeboten werden, befinden sich auf der Bühne. Besser noch: lösen diese auf und vereinen Zuschauerraum und Bühne geschickt miteinander. Als heimlicher Beobachter fühlt man sich so, den voyeuristischen Blick immer auf das nur wenige Schritte entfernte Geschehen gerichtet, ohne dabei wahrgenommen zu werden. Und gleich zu Beginn wird man Zeuge einer beklemmenden Situation. Die Mutter ruft zu Tisch, denn das Essen ist fertig. Kinder und Mann setzten sich, alle kauen auf ihrer trockenen Scheibe Brot herum, während der Vater (Max Schaufuß) für jedes Familienmitglied eine Erniedrigung oder verbale Schikane parat hat. Die Stimmung zu Tisch erreicht ihren Tiefpunkt, als der eben noch so streitlustige Mann tot umfällt – Herzinfarkt. Schnell ist somit der erste Punkt der Geschichte erzählt und die Handlung schreitet weiter voran. Die Vorlage für das Stück, McEwans Roman also, ist für die Bühnenfassung stark selektiert und gekürzt worden. Bald wird klar, dass es hier nicht um eine ganzheitliche Übertragung, sondern vielmehr um Akzentuierung geht. Die zum Verständnis der Geschichte notwendigen Passagen werden zeitlich gerafft, wirken dennoch stimmig und ebnen gleichsam dem Weg für den Kern des Stückes.

Nachdem nun kurze Zeit später auch die Mutter verstirbt, beschließen die Kinder, es geheim zu halten. Aus Angst voneinander getrennt zu werden, wenn herauskommt, dass sie nun Waisen sind, gießen sie die Mutter im Keller mit Zement ein. Diese grausame Handlung findet in der Darstellung nur wenig Beachtung, die Idee scheint fast schon selbstverständlich zu sein. In einer kurzen Begräbnisszene wird die Verstorbene in einer sargähnlichen Kiste über die Bühne gerollt. Dabei wirken die Kinder sehr gefasst und rational. Die folgenden Szenen sind gezeichnet von diesem grotesken Zusammenleben, schwebt über allem doch das ständige Wissen über den mütterlichen Leichnam im Keller. Dem Zuschauer präsentiert sich die Szenerie in einer Weise, die einerseits typisch bizarr daherkommt. Andererseits ersparen die Regisseure den zahlreich erschienenen Beobachtern lähmende Klischeeentwürfe und überkommene theatrale Floskeln. Die Bilder wirken frisch und eindringlich. Gepaart mit der Zusammenführung von Bühne und Zuschauerraum entsteht so eine fast schon angenehme Atmosphäre, die die Distanziertheit in Integration auflöst.

Getrieben also von der Notwendigkeit, still zurechtzukommen, entwickelt sich ein neues Familiengefüge, das nicht viel mehr sein kann, als eine unreflektierte Rekonstruktion des elterlichen Tuns der Vergangenheit. Die älteste Schwester Julie (Julia Pohl in verschiedenen Rollen) übernimmt die Mutterrolle und kümmert sich vor allem um das jüngste Mitglied der Familie, Tom, welcher durch den Verlust der Mutter in frühkindliche Muster verfällt und fortan ein Mädchen sein möchte. Ein Kleinkind auf der Bühne zu spielen birgt dabei oft das Risiko, lächerlich oder unecht zu wirken. Mit ihrer Darstellung des Kindes umgeht die Schauspielerin Tala Al-Deen dem jedoch geschickt. Kindlich frei wirken die Handlungen. Auch die Rufe nach der großen Schwester lassen das Alter erkennen. Und doch entstehen keine peinlich berührenden Momente. Gleich der Romanvorlage werden die Charaktere nicht klar ausgebaut und bleiben schemenhaft. Dass zwei der Darsteller verschiedene Rollen übernehmen, die teilweise fließend ineinander über gehen, verwirrt zuweilen allerdings.

Die Szenen im Stück zeichnen sich vor allem durch ihre Bildhaftigkeit aus. Die Zusammenstellung der Figuren auf der Bühne ist oft tableauartig, die Anordnungen könnten ebenso Fotografien sein. Dieses Spiel mit starken Bildern vermittelt den Eindruck, Fotos eines Familienalbums anzusehen. Doch scheint mit diesem Album etwas nicht zu stimmen. Die Welt, welche sich die Kinder erschaffen, ist absurd und steht in einem ständigen Spannungsverhältnis zur Außenwelt. Darf das Außen doch nicht eindringen in die geschlossene Einheit. Bis hin zum Inzest treiben sie es schließlich, und scheitern letztlich an ihrer Gemeinschaft.

Mit ihrer Inszenierung von Der Zementgarten werfen Köhler und Günther nicht nur die Frage nach Normalität im Zusammenleben auf. Durch die groteske Familienszenerie wird der Zuschauer ebenso gezwungen, die scharfe Grenze zwischen richtigem und falschem Handeln in fremden Kontexten zu überdenken. Hat die Erhaltung der Familie als funktionale Einheit oberste Priorität? Über das Gesehene zu urteilen bleibt letztlich jedem selbst überlassen.

Der Zementgarten

R: Christopher Köhler, Lisa Günther

Mit: Tala Al-Deen, Tim Josefski, Caroline Kaiser, Julia Pohl, Max Schaufuß

Premiere: 16. Februar 2012, Cammerspiele


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