Elend und viel Komik im Kristallpalast

Martin Laberenz Inszenierung von Dostojewskijs „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ in der Skala sucht nach einer Form, die sich immer wieder selber zerreißt

Fotos: R.Arnold/Centraltheater

Der schwäbische Träger des Literaturnobelpreises Hermann Hesse schrieb einmal über den russischen Dichter Fjodor Michailowitsch Dostojewskij: „Wir müssen Dostojewski lesen, wenn wir elend sind […] Dann, wenn wir aus dem Elend vereinsamt und gelähmt ins Leben hinüberstarren […] , dann sind wir offen für die Musik dieses schrecklichen und herrlichen Dichters. Dann sind wir nicht mehr Zuschauer, dann sind wir arme Brüder unter all den armen Teufeln seiner Dichtungen, dann leiden wir ihre Leiden, starren mit ihnen gebannt und atemlos in den Strudel des Lebens, in die ewig mahlende Mühle des Todes.“ Das von Hesse beschriebene Wesen der Literatur Dostojewskijs kann in besonderem Maße für dessen Buch Aufzeichnungen aus dem Kellerloch gelten. In diesem Buch ist es ein elender und vereinsamter Namenloser, der dem Leser von seinen Überzeugungen, die seine Welt betreffen, konfrontiert. Hin und her gerissen zwischen vermeintlichem Heldentum und im Dreck seines Kellerloch-Dasein dahin siechendem Skeptizismus, ist dieser Namenlose im ersten Teil des Buches einer, der am Rand der Gesellschaft – und nur dort scheint das Folgende möglich – selbige unterläuft und ihr den Narrenspiegel vorhält. Als Kommentarfigur der jüngsten Vergangenheit, ist er selbst Teil dieses Erbes. Aber lieber ist er ein weiser Narr als ein närrischer Weiser.

Im zweiten Teil des Buches, nimmt uns der Erzähler mit auf die Reise in seine Erinnerungswelt und berichtet von einer Begebenheit, die sich ohne weiteres mit den im ersten Teil explizierten Gedanken in Verbindung bringen lassen. Es wird von einer Begegnung mit ehemaligen Schulfreunden berichtet, die einen Abschiedsabend für einen gemeinsamen Freund planen. Obwohl unsere Namenloser in diesem Kreis weniger als das fünfte Rad am Wagen ist, will er an diesem Vorhaben partizipieren. Was an diesem Abend vonstattengehen wird, kann man bereits erahnen.

Die Inszenierung von Martin Laberenz in der Skala macht sich diesen zur Aufführung wie geschaffenen Text zueigen und versucht die beiden Teile des Buchs zu verschmelzen. In der Mitte des Raumes, der nicht bestuhlt ist, steht ein großer Rahmen, der eine Bühne bildet, die durch einen roten Vorhang verhangen ist. An diesem Rahmen sind zahlreiche Lampen angebracht, so dass man sich schon vor Beginn der Vorstellung an ein Revue-Theater erinnert fühlt.

Der Vorhang öffnet sich und Manuel Hader singt in theatralischer Art und Weise die ersten Zeilen des namenlosen Protagonisten aus Dostsojewskijs Buch Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: „Ich bin ein kranker Mensch […] Ich bin ein böser Mensch […]“ Nach und nach gesellen sich Manolo Berting, Edgar Eckert und Benjamin Lillie zu ihm und die Vier singen gemeinsam. Nach Beendigung des für das Publikum belustigenden Singspiels, sieht man, wie die drei vermeidlichen Schulfreunde (Manolo Berting, Edgar Eckert, Benjamin Lillie) des Namenlosen über die Planungen für den Abschied des gemeinsamen Bekannte, den Offizier Swerkow (Sarah Franke), sprechen. Widerwillig lassen sie den Erzähler an ihrem Vorhaben teilnehmen. Die Bühne, die manuell von den Akteuren gedreht wird, zeigt ihre Rückwand, die in der Folge die Projektionsfläche eines Schattentheaters ist, hinter dem die Schauspieler die Szene im Hotel de Paris in St. Petersburg, in dem der Abschied stattfindet, darstellen. Mit reichlich zum Lachen animierenden Übertreibungen wie Scherenschnitte von Teetassen und Zigarren mit falschem Rauch oder ins Übergroße wachsende Figuren, wohnt man hier der Erniedrigung des Erzählers bei. Manuel Hader, als Namenloser, beleidigt einen seiner Freunde (Benjamin Lillie) – und fordert diesen zum Duell. Die häufigen Anfragen von Herrn Lillie bei der Souffleuse, welchen Text er nun zu sprechen habe grenzen, wenn sie nicht gewollt sind, an eine Frechheit. Aber ein gütiges Publikum und seine Art, die Aussetzer zu umspielen, vertuschen den vermeintlichen Betrug.

Nachdem die Schattenwand zerrissen und die Bühne wieder von Hand bewegt wurde, sitzt sich das Publikum, das aufgefordert wurde die Position zu verändern, gegenüber. Die einen blicken auf die Bühne, die anderen verfolgen das Geschehen hinter der Bühne sitzend. Die Spiegelfunktion und auch der Rollentausch, der hier vonstattengeht, sind interessant. Andererseits verwischt die ständige Bewegung auch mitunter die Spuren des Bezugs zum Gesagten und Dargestellten.

In der nun folgenden Vorbereitung auf das Duell, das nicht stattfinden wird, sieht man die Figur des Namenlosen zum ersten und einzigen Mal in ihrem ganzen Widerspruch. Wähnt er sich zu Anfang noch als siegendes Subjekt, so verfällt diese Maske im Verlauf und sichtbar wird ein Wesen, dass getreten am Boden liegt. Erniedrigt durch sich selbst und seine Umwelt beginnt er unterwürfig den Dreck als seinen angestammten Daseinsort zu akzeptieren. Das geht so weit, dass Manuel Hader nackt, nur mit einem weißen Strumpf bekleidet um die Bühne rennt und Old McDonald had a farm und Auf der Mauer auf der Lauer singt. Dabei degeneriert er immer mehr zu den Tieren, die er zuvor noch besungen hatte. Am Ende dieses Ausbruchs, liegt er erledigt Swerkow zu Füßen, hechelt wie ein Hund und winselt um Vergebung. Die Anderen, Swerkow voran, schauen zu Beginn diesem Schaulaufen misstrauisch zu, bis der Offizier dem sich zu entschuldigen Versuchenden sagt, dass dieser gar nicht in der Lage ist ihn zu beleidigen. Das was der Zuschauer dort sieht ist die erneute Selbsterniedrigung eines bereits Erledigten, einer kranken Bestie der Idee. Die Schulden, die er auf sich geladen hat, sind nicht tilgbar. Aller Hass, der sich nicht an einem Außen entladen konnte, wuchs in seinem Inneren zu mächtiger Größe an und wurde dort klug. Alle Schmähungen, die er in eine Welt, in der er kein Gewicht hat, entlässt, stehen stellvertretend für seinen Eigenhass. Das Übergewicht der Unlustgefühle zeigt das Unbehagen an einer sich auf Vernunft reduzierenden Kultur, deren Rechnung immer aufgehen muss.

Die Diskrepanz zwischen Tatmensch und Kellerlochbewohnern, das Verhältnis zwischen dem normalen und überbewussten Menschen, über die Edgar Eckert schwadroniert, ist ein wesentliches Moment des Stücks. Pure Vernunft darf niemals siegen, könnte als Losung über dem Vortrag prangen, der sich gegen den Betrug der reinen Wissenschaft richtet, die das Leben bis in die letzten Atome versucht zu zergliedern. Durch diesen Versuch, das Leben zu Ende zu sezieren, würde auch der letzte Zusammenhalt, den Faust einst erfahren wollte, zerbrechen.

In der folgenden Kaffeehaus-Szene, die auf der eigentlichen Bühne des Hauses spielt, kämpft Vernünftigkeit gegen Unvernunft – und das nicht nur metaphorisch. Alle männlichen Protagonisten stehen sich gegen Ende der Szene mit Pistolen in ihren Händen gegenüber und Benjamin Lillie erklärt allen, was ein mexican standoff ist. Die russischen Cowboys bezeichnen sich selbst als aufgeklärte Pistolenträger und ihr Showdown sei eine philosophische Auseinandersetzung mit richtigen Waffen. In diese Szene platzt immer wieder Sarah Franke als Kellnerin und merkt folgerichtig an, dass auf der Bühne nur Anti-Helden zu sehen sind, lächerliche Karikaturen eines entlaufenen Ideals.

Spannend ist, dass Martin Laberenz den Text aus dem ersten Teil des Buches nicht nur einer Figur zuteilt. Damit konfrontiert er alle Figuren mit den Aufzeichnungen des Namenlosen und unterstreicht so die beliebige Austauschbarkeit der Rollen und auch die im Buch proklamierte Charakterlosigkeit des modernen Menschen, der lieber ein phänomenaler Allgemeinmensch sein will, als ein Mensch mit eigenem Fleisch und Blut.

Die gegen Ende des Stücks dargelegten Gedanken zum Theater wirken abgedroschen und überflüssig. Schauspiel als Prostitution und Seelenverkauf, als Reden des Schauspielers für sich selbst, in dem das Publikum nur Form ist – das hat man so oder anders schon allzu oft, und nicht nur in Bezug auf das Theater, gehört. Dem Zynismus dieser Äußerungen steht allerdings das Stück selbst gegenüber, in dem man sich als Zuschauer nicht in Formaldehyd konserviert, sondern verbunden und eingebunden fühlt, nicht gänzlich eingeschlossen aber auch nicht bedrängend eingesperrt – das Kellerloch wird zum Schauplatz existentieller Bedrängnis. Die durchaus erkennbare und gewollte Einbindung des Zuschauers führt nicht immer dazu, dass dieser zum armen Bruder/zur armen Schwester mutiert.

Als Ideengezeugte sind wir Totgeborene. So lautet die düstere Konklusion aller Prämissen. Und der Ausweg? Laune und Liebe! Es geht nicht um die Extreme von Leid oder Glückseligkeit, so Edgar Eckert. Das ist eine Absage an die Glücksversessenheit der letzten Menschen und die Leidverliebtheit aller Romantiker.

Leider wirken die Ausführungen, die Dostojewskij seinen Erzähler in die Welt schleudern lässt, in ihrer gestreuten Fülle im Stück wie die Fetzen der zerrissenen Schattenspielwand. Es fällt mitunter schwer, sich ein klares Bild von dem zu machen, was hier aufschwellend angedacht werden soll. Auch das redundante Malträtieren längst erwähnter Ideen kann die Frage nach deren Ziel nicht außer Acht lassen. Der Kern, der in den Aufzeichnungen aus den Begriffen Erniedrigung und Rache gefügt ist, ist an manchen Stellen zu erkennen. Doch zum Großteil werden an diesem Abend nur Symptome und Wirkungen behandelt nicht Krankheit und Ursache. Sicher ist hierbei die Intention des Regisseurs zu beachten, die offenkundig mit den Vorstellungen des Autors dieses Textes kollidiert. Wer eine zum Komischen neigende Kristallpalastshow mit versprengten Einwürfen zu allerlei philosophischen, politischen oder theatertheoretischen Themen sehen will, dem sei dieses Stück wärmstens ans Herz gelegt. Ein Geniestreich der Psychologie ist es hingegen nicht.

Aufzeichnungen aus dem Kellerloch

Regie: Martin Laberenz

Mit: Manolo Berting, Edgar Eckert, Sarah Franke, Benjamin Lillie

Premiere: 17. Februar 2012, Skala


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