Danish Motherfucker

Sascha Hawemanns Hamlet Vers.(ion) 6 zieht die feinen psychologischen Linien der Tragödie des dänischen Hofstaates und webt einen Teppich, der über den Stoff hinausreicht

Darsteller Edgar Eckert (Fotos: R.Arnold/Centraltheater)

Was hat die Geschichte der Hamletrezeption nicht schon alles hervorgebracht? Wie viele „große“ Namen haben sich an dieser Figur abzuarbeiten versucht? Und wie oft musste Hamlet als Prototyp einer bestimmten Gattung Mensch herhalten? Man denkt an Sigmund Freuds Ausdeutungen hinsichtlich des Ödipus-Komplexes, den er in diesem Drama als unbewussten Werkmeister der Tragik herausarbeitet. Auch denkt man an die Deutung Thomas Manns in seiner Hamletnovelle Tonio Kröger. In Anlehnung an Friedrich Nietzsches Lehre vom Dionysischen und Apollinischen, ist Hamlet im Mannschen Sinne ein Subjekt, das einmal einen Blick in die Tiefe der Dinge getan hat. Die Folge dieses Blickes sei der handlungshemmende Ekel dieser Erkenntnis und die damit verbundene Lähmung des Erkennenden. Dieser typische Literat als hamletischer Fall, so der verirrte Bürger in der Mannschen Novelle, sei zum Hellsehen verurteilt, zum Wissen berufen, aber nicht dazu geboren.

Losgelöst von diesem metaphysischen Pathos der Distanz zeigt Sascha Hawemanns Inszenierung von Shakespeares Hamlet am Centraltheater einen gänzlich anderen dänischen Prinzen. Es ist das Bild eines unwissenden, zwischen Wut und Trauer dahin wankenden Sohnes, der seinen Vater verloren hat. Jedoch bildet die Figur des Hamlet nicht den Mittelpunkt des Stückes. Entlang der klassischen Handlung des Dramas zeigt die Inszenierung die einzelnen Tragödien, die allen Figuren widerfahren.

Das Stück wird auf der eigentlichen Bühne des Hauses gespielt. Der einzige Unterschied ist der, dass der Zuschauer das Stück von hinten verfolgt, entlang der historischen Blickachse des Hauses. Der Blick in den Zuschauerraum ist durch ein eisernes Schott versperrt. Dadurch eröffnet sich dem Betrachter ein ausufernder Blick in das dunkle Zentrum der Theatermaschine. Überall sieht man Scheinwerfer, Kabel und Monitore. Auf beiden Seiten der Bühne stehen fahrbare Ständer, an denen Kostüme hängen. Auf der linken Seite befinden sich überdimensionale mit Kleidern gefüllte Säcke, wie man sie von Baustellen kennt. Vor dem Schott stehen Schminktische. In dieser fundusartigen Atmosphäre produzieren sich die Figuren, entwickeln ihre Konflikte, an denen sie scheitern.

Man sieht einen sabbernden Hamlet (Edgar Eckert), der tief betrübt über den Verlust seines Vaters dem völligen Zusammenbruch nahe ist. Sein ekstatisches Zappeln, sein verzweifeltes Winseln scheint ohne Maß zu sein. Einem Fötus gleich liegt er auf seinem Schminktisch, der Dinge harrend, die da kommen mögen.

Ingolf Müller-Beck, Christian Kuchenbuch, Carolin Haupt

Seine Mutter Gertrud (Carolin Haupt), die Königin, ruft ihn zur Raison, sein Stiefvater und neuer König (Ingolf Müller-Beck) bezeichnet ihn abschätzig als schluchzenden Idioten, der nicht die Totenruhe seines verstorbenen Vaters stören soll. Noch weiß Hamlet nicht, dass der neue König seinen Vorgänger und Bruder umgebracht hat, um die Königin zu heiraten und selbst die Herrschaft an sich zu reißen. Die Mutter ist gekennzeichnet durch einen apathischen, ins Leere gehenden Blick. Ihre Einsamkeit gipfelt in der drastischen Darstellung der Muttervergiftung Hamlets. Einer Pieta gleich, sieht man den nackten Hamlet in den armen der Mutter liegen, die ihn wäscht und dazu Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal singt. Viele Anläufe sind nötig, damit sie ihn als das bezeichnen kann, was er ist: ihr Sohn.

Nachdem nun der Geist des Vaters (Christian Kuchenbuch) Hamlet heimgesucht hat und ihm aufträgt seinen Mord zu rächen, ist die Verwirrung Hamlets perfekt. Der Wahnsinn, den er von nun an an den Tag legt, kann als Maske verstanden werden, als Kalkül, um seinen Auftrag zu erfüllen. Diesem Rachefeldzug fallen fast alle Figuren zum Opfer – auch Hamlet selbst. Allen voran Ophelia (Sarah Franke). Die Tochter des übergriffigen Polonius (Christian Kuchenbuch), der Hamlet des Wahnsinns überführen will, um seine Tochter zu „schützen“, stirbt ihren Theatertod im Beisein der Königin, deren Neid auf diese letzte Erlösung eine sprachliche Formulierung findet. Seit 400 Jahren ist die Königin die einzige, die nicht sterben darf. Polonius stirbt durch Hamlets Hand. Rosenkranz und Güldenstern (Sarah Franke/Günther Hader) verlieren ihr Leben bei dem Versuch Hamlet in England loszuwerden.

Nachdem der Dandy Laertes aus Paris zurückgekehrt ist – dort wollte er eine Platte aufnehmen und die Pariser Damenwelt durchkämmen –, bricht er unter der Trauer über den Verlust von Vater (Polonius) und Schwester (Ophelia) zusammen. Der übermütige Schwärmer, der von seinem Vater als Versager in die Fremde geschickt wird, damit dieser ihn nicht ertragen muss, ist durch den Verlust eingebunden in die Linearität des Dramas. Durch seine ureigene Problematik ist er aber ebenfalls, wie alle Figuren, dieser Handlung sekundär enthoben.

Des Stiefvaters Tragödie ist im Brudermord zu verorten. Kann man Vergebung erlangen, bei gleichzeitigem Erhalt des widerrechtlichen Gewinns? Das ist die Frage, die ihn quält. Neben Tat und Reue ist es vor allem das Gefühl der Schuld, dass ihm das älteste aller Verbrechen als Gewinn hinterlassen hat. Durch diese schuldhafte Verstrickung lässt sich auch die Beziehung zu Hamlets Mutter verstehen. Ihr überträgt er seine Schuldgefühle, wie sie die ihren auf ihn projiziert. Ihre Kollisionen sind teils aggressiver, teils erotisch verschlingender Natur und damit nur die beiden Seiten ein und derselben Medaille.

Sarah Franke, Edgar Eckert, Günther Harder

Allen Vaterfiguren des Stücks ist eine abwertende und übergriffige Natur zu eigen. Selbst der Geist des Vaters behandelt seinen Sohn, welcher ihn schmerzlich vermisst, wie einen Idioten, lässt ihn seinen Auftrag wie einen blöden Schuljungen wiederholen. Herablassende Väter und besitzergreifende Mütter sind hier einer der Gründe dafür, dass Hamlet, Ophelia und Laertes zu dem geworden sind, was sie in den Untergang führt – entleerte Gefäße, missbrauchte Körper, geschundene Seelen.

Sascha Hawemann zeigt dem Zuschauer einen Staat Dänemark, dessen Fäulnis eine Folge der Problemfixierung aller Figuren ist. Es gibt keine irdische Erlösung. Wahnsinn und Tod, ewiger Wiederholungszwang sind die Folge fehlender Zuneigung, enttäuschter Liebe und verzweifelter Autoaggression, die sich auch gern stellvertretend an einem Anderen ihre Projektionsfläche sucht.

Auf der Suche nach Liebe, verbraucht sich diese Welt, weil sie gar nicht weiß, was Liebe ist.

Eine weitere Ebene, gewissermaßen ein Spiel im Spiel, ist die metatheatrale Problematik des Wie und Was. Wie kann man Hamlet aufführen? Kann man es überhaupt noch. Was kann Theater? Macht das alles noch Sinn in Anbetracht der langen Reihe, in die sich das Stück einordnen muss und will? In einem Ausfall aus seiner Rolle verkündet Ingolf Müller-Beck in einer Moderation die Antworten des Regisseurs auf diese Fragen. Es gibt immer nur einen Hamlet von vielen. Es handelt sich bei jedem Unterfangen, Hamlet auf die Bühne zu bringen immer um die Suche nach dem Selbst-Verständnis einer Zeit, deren Spiegel Hamlet sein kann. Es gelte zu den Erfahrungen unser Unruhe durchzubrechen. Die Beantwortung all diese Fragen durch die Rede auf der Bühne, zeigt einen Mangel, eine Armut, mit dem das Theater zu kämpfen hat. Im Übervollen der Kulisse, den Kleidern, den Projektionen am Schott, den Musikeinspielungen geht das Stück nicht unter, sondern auf. Durch das Übermaß korrigiert das Bunte des Scheins eine triste Welt, verweist aber durch diese Korrektur auf den Mangel an realer Entsprechung. Der Schauspieler als Mittelpunkt des Getriebes Theater verschwendet sich als Figur. Doch warum? „Ich spiele nicht mehr mit!“, sagt ein Hamlet, der einem theatral gebändigten Opferkult mehr als skeptisch gegenübersteht. Der Geist des Vaters, der auch Shakespeares selbst sein könnte, geht auch lieber wieder hinter den eisernen Schott, um einen Film zu schauen. Doch letztendlich stehen die Schauspieler und damit die von ihnen gespielten Figuren wieder auf der Bühne. Weil ihnen nichts anderes übrig bleibt? Oder weil Theater doch ein Potenzial birgt, das über die Bühne greift und ergreift? Eine Antwort auf die zweite Frage liegt im Möglichkeitsbereich dieses Schauspiels. In bedrängenden Schüben öffnen sich für den Zuschauer die Türen zu den auf der Bühne vorgeführten Ereignissen höchster Niedertracht. Das Drama stellt dem Publikum das herbe Los aller Figuren vor Augen, dessen Gewinn Wahnsinn, Tod und Einsamkeit ist.

In diesem zutiefst traurigen Stück, das mit selbstironischen Brechungen einen Widerstand aufzubauen versucht, gibt es keine Erlösung. Hamlet hängt kopfüber in der Kulisse. Die anderen Figuren liegen in den überdimensionalen Säcken. Aber diese Entsorgung lässt die Sorge nicht verschwinden. Die letzte Frage, ob wir die Pfeile des Geschicks erdulden oder Widerstand leisten sollen, kann weder mit dem einen noch mit dem anderen beantwortet werden. Sowohl Erdulden, als auch das Leisten des Widerstandes führt in die Katastrophe. Vom Widerstand müsste ein Weg zur Annahme von Wut und Verlust gebahnt werden, damit getrauert werden kann. Der Rest ist tiefe Bewunderung für dieses ergreifende Spiel!

Hamlet Vers. 6

R: Sascha Hawemann

Mit: Edgar Eckert, Sarah Franke, Günther Harder, Carolin Haupt, Christian Kuchenbuch, Ingolf Müller-Beck

Premiere: 30. März 2012, Centraltheater


Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.