Grausam, schön

A.M. Homes’ „Das Ende von Alice“ ist eine der intensivsten Lektüren dieses Jahres

Man muss zuerst dem Verlag Kiepenheuer und Witsch zu dem Mut gratulieren, dieses Buch endlich den deutschen Lesern zugänglich zu machen. Das Ende von Alice sorgte 1996 in den USA für einen veritablen Skandal, vergleichbar mit der Debatte um Bret Easton Ellis’ American Psycho fünf Jahre zuvor. Einige Kritiker waren entsetzt, hielten das Buch für „ekelhaften Dreck“ (New York Times). Andere bejubelten es als großes Meisterwerk, welches zukünftig zu den wichtigsten Büchern des späten zwanzigsten Jahrhunderts gehören wird.

Kein Wunder, dass so kontrovers diskutiert wurde, ist doch das Thema von Das Ende von Alice eines der gesellschaftlich verachtetsten überhaupt: Pädophilie. Chappy sitzt seit dreiundzwanzig Jahren im Gefängnis, um den Mord an der damals zwölfjährigen Alice Somerfield zu verbüßen. In seinem Haftalltag liest er viel und pflegt regen Briefkontakt zur Außenwelt, wenn sich nicht gerade die Gelegenheit bietet, sich vom Knastkumpel rannehmen zu lassen. Neben den ungebetenen Anfragen von Kriminologen, die sich mit seinem Fall gerne näher auseinandersetzen würden, kommt eines Tages der Brief von einem neunzehnjährigen Mädchen bei ihm an, das offen zugibt, Bewunderung für ihn zu hegen. Das Mädchen verbringt die ersten Semesterferien zu Hause und möchte den sieben Jahre jüngeren Sohn der Nachbarn verführen. Chappy soll ihr für diese fragwürdige Unternehmung Ratschläge erteilen.

Chappy ist von den Briefen des Mädchens erregt und abgestoßen zugleich, versetzt sich als stummer Beobachter immer wieder in die Situationen, die das Mädchen ihm beschreibt. Spielt es sich wirklich so ab, wie Chappy es erzählt? Oder nehmen seine eigenen Fantasien maßgeblichen Einfluss auf das Geschehen? Zu Beginn ist seine Hoffnung noch groß, in dem Mädchen eine würdige Epigone gefunden zu haben. Schon bald erkennt er, dass sie nur bedingt seinem Rat folgt. Das Mädchen treibt ein perfides Spiel mit den Eltern des Nachbarsjungen, deren Vertrauen sie genauso missbraucht wie die Vorbild- und Autoritätsfunktion gegenüber deren Sohn.

Im letzten und stärksten Drittel des Buches erfährt die Handlung eine Wendung und Chappy muss vor ein Tribunal. Es geht um die Verkürzung seiner Haftzeit, wozu sein gesamter Fall noch einmal aufgerollt werden muss. Also erzählt er die Geschichte vom Sommer 1971, als er in einem Kinderschuhgeschäft zu arbeiten begann, um täglich von den Objekten seiner Begierde umgeben zu sein. Nach einem ungeplanten Zwischenfall, der ihn bereits ins Gefängnis bringen könnte, brennt er durch und mietet sich eine Waldhütte in New Hampshire. Hier lernt er sie kennen, die Liebe seines Lebens – Alice Somerfield, zwölf Jahre alt und die Tochter seiner Vermieterin.

Die beiden kommen sich schnell näher, kreisen spielerisch umeinander. Die Frage, wer hier eigentlich wen verführt, ist schwer zu beantworten. Wenn man die expliziten, sexuellen Beschreibungen Chappys lesen würde, ohne das Wissen, das dies alles mit einem jungen Mädchen passiert, könnte man den Roman als tragische Liebesgeschichte und erotischen Roman lesen, der ganz und gar den Konventionen unserer moralischen Vorstellung von Liebe und Sexualität entspricht. Die Doppelbödigkeit dieser Liebesgeschichte wird damit für die Leser auf jeden Fall eine erschreckende, fast schon schmerzhafte Erfahrung. Man kann die Zweisamkeit von Mann und Mädchen schön finden, obwohl das Szenario zugleich Ekel und Grauen in sich birgt. Darin liegt ja auch das anfangs angesprochene Skandalöse des Romans: Nicht auf einer einzigen Seite dieses Buches wird thematisiert, ob es in irgendeiner Weise abnormal sein könnte, Kinder zu begehren. Viel eher empfindet es Chappy als blanke Normalität, dass er so begehrt, wie er begehrt. Man möchte ihm da kaum widersprechen. Wer kann sich seine Sexualität schon aussuchen?

Mit Das Ende von Alice hat A.M. Homes etwas ganz Einmaliges geschafft. Sie hat eine poetische Sprache der Pädophilie gefunden, die den Leser trotz seiner Ablehnung dem Protagonisten und der Handlung gegenüber für sich gewinnen kann. Wer sich diesem harten Tobak aussetzen kann, sollte es unbedingt tun. Egal ob man das Buch für gelungen hält oder nicht, es lässt mit Sicherheit keinen kalt und wird einen noch längere Zeit beschäftigen. Den langen Nachhall und emotionale Talfahrten haben große Meisterwerke eben so an sich.

A.M. Homes: Das Ende von Alice

Kiepenheuer und Witsch

Köln 2012

304 S. – 19,99 Euro


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