Wende-Geschichte

Stephen Greenblatt über sich und einen epochalen Wandel

Pathos ist nicht das Stilmittel, mit dem Stephen Greenblatt seine Wende-Geschichte erzählt. „Der epochale Wandel allerdings, mit dem dieses Buch sich befasst, lässt sich, obwohl er doch das Leben von uns allen beeinflusst hat, nicht ohne weiteres mit einem dramatischen Bild verknüpfen.“ Als es zur Wende kam, „war das Schlüsselereignis verhüllt, fast unsichtbar, geschah versteckt, unsichtbar hinter Wänden an einem abgelegenen Ort.“ Kluger Mann, wer hat denn geglaubt, dass der Schabowski-Zettel oder ein Vielfüßlerlauf um den Leipziger Ring die Lokomotive der Revolution ins Rollen gebracht hätte.

„Eines Tages streckte ein kleiner, genialer, ebenso umsichtiger wie aufmerksamer Mann Ende dreißig seine Hand aus, um ein sehr altes Manuskript aus einem Regal zu nehmen, betrachtete überrascht, was er entdeckt hatte, und erteilte sofort den Auftrag, die Schrift zu kopieren.“ Nein, nicht Gorbatschow oder Genscher ist gemeint, der die Losung „Wir sind ein Volk“ unter, nun ja, das Volk brachte. Greenblatts äußerst lesbarer und fundierter Bericht handelt von einer anderen „Wende“ und beschreibt, „Wie die Renaissance begann“. Allerdings passt dieser historische Einschnitt auf 89 wie Müntzer auf den Fünf-Markschein. Denn jeweils eine neue Philosophie und Weltsicht wälzte im beginnenden 15. wie im ausgehenden 20. Jahrhundert das Bestehende nieder. Lukrez’ „Von der Natur“ ebenso wie der Quelle-Katalog kitzelten eine neue Deutung des Materiellen und die Veränderung der persönlichen Lebenseinstellung hervor – und erzwangen das stoische Ertragen des Mangels. Damals gingen die Verkünder des Humanismus als Sieger hervor, in der Wende danach die Verwalter des Humankapitals. Aber, so beruhigt Greenblatt: Das Mittelalter dauert nicht ewig.

Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann

Siedler 2012

345 S., 24,99 Euro


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