Michael Talke inszeniert Čhechovs „Ivanov“ am Schauspiel Leipzig und wagt dabei leider nicht genug
Der schlafende Ivanov, den Kopf auf die Kante eines meterlangen Tisches gelegt. Auf dem Tisch ein Stapel Papier, eine Pistole. Daneben ein paar Stühle, dahinter ein riesiger Retro-Vorhang, der den hinteren Teil der Bühne noch verdeckt. Erst als nach einer Anfangsszene dieser Vorhang fällt, wird der Blick auf den gesamten Raum frei, der von einem riesigen Regal gefüllt mit Einmachgläsern voll Stachelbeeren dominiert wird. Der Tisch erstreckt sich ebenfalls durch den ganzen Bühnenraum. An ihm wird sich hauptsächlich das Geschehen der zweistündigen Inszenierung „Ivanov“ am Schauspiel Leipzig abspielen. (Bühne: Hugo Gretler)
Regisseur Michael Talke konzentriert sich über lange Strecken hinweg ausschließlich darauf, dem Zuschauer die Absurdität der Gesellschaft rund um Ivanov, dessen sterbenskranker Frau Anna und seiner Geliebten Saša, die Tochter seines Gläubigers, vorzuführen. Die Charaktere, die Talke auftreten lässt, finden keinen gemeinsamen Nenner, reden ständig aneinander vorbei, befinden sich stets im Zwiespalt zwischen Gehen und Bleiben, und sind dabei so von Grund auf ehrlich und rücksichtslos, dass sie nicht zögern, sich gegenseitig ständig ihre Antipathie zu bekunden. Wir sehen hier eine Art Zweckgemeinschaft, die sich auf gegenseitigen finanziellen Abhängigkeiten und auf der Hoffnung, zumindest ein wenig von der eigenen Langeweile abgelenkt zu werden, gründet. Dabei wird viel geplappert, geschrien, gestritten, getrunken und nicht selten kommt es dazu, dass nur ein Ausbruch Ivanovs das Toben unterbrechen kann.
Dabei steht Ivanov als stiller Beobachter ansonsten meist außerhalb dieser Gruppe. Über den Großteil des Abends sitzt er schlafend oder schreibend am Schreibtisch, während sich hinter ihm die Drehbühne mit Stachelbeeren-Regal dreht und der ganz normale Wahnsinn tobt: Hier wird Geld verliehen, da werden Heiratsversprechungen gemacht, dort fließt der Wodka, da werden Gäste zum Tanzen aufgefordert. Dieses Treiben inszeniert Michael Talke teilweise sehr humorvoll und grotesk. Stellenweise gelingt es ihm dabei, den schmalen Grat zwischen Tragik und Komik – Čechov hatte „Ivanov“ zunächst als Komödie ge- und dann zur Tragödie umgeschrieben – deutlich zu machen, zu zeigen, wie nahe Freud und Leid doch häufig beieinander liegen. Jedoch verliert vor allem der Mittelteil des Abends, der an neuen Informationen und tatsächlichem Geschehen nicht wirklich viel zu bieten hat, an zu vielen Stellen an Spannung. Zwar ist es durchaus komisch, den Akteuren dabei zuzusehen wie sie ein und dieselbe Szene – Musik an, Hosenträger zurechtrücken, tanzen, Tee trinken – mehrmals wiederholen. Als mehr als ein Ansatz in die Richtung, die Monotonie und Langeweile der Charaktere für den Zuschauer erlebbar zu machen, lässt sich das aber nicht bezeichnen. Da wollte Talke seinem Publikum anscheinend doch nicht zu viel Langeweile zumuten, obwohl der Abend gut mehr Radikalität und Ausdauer vertragen hätte.
Gerne schaut man dagegen den Nebenfiguren zu, allen voran Annett Sawallisch als Babakina und Matthias Hummitzsch als Sabelskij. Sie alle sind durch bestimmte Gewohnheiten und Laster gekennzeichnet – bei Babakina ist es das Essen, bei Lebedev das Trinken, bei Kosych das Spielen – und werden somit zu zugespitzten Persönlichkeiten und schrägen Vögeln, denen sowohl das Tragische als auch das Komische inhärent sind. Vor dem Hintergrund dieser Karikaturen hätte man sich die Hauptcharaktere vielschichtiger gewünscht: Saša (Pina Bergemann) ist als das jugendliche, naive, hoffnungsvolle Mädchen vergleichsweise flach angelegt und bringt keinerlei Überraschendes oder Interessantes mit sich. Und Jonas Fürstenaus Ivanov fehlt es an Schärfe: Er redet ständig von seiner Müdigkeit und Schwermut, szenisch ist da aber eigentlich nichts davon zu bemerken. Dagegen kommt er zwar oft als abwesende, aber eher aggressive Person daher, die einen großen Zorn gegen sich und ihre Mitmenschen in sich trägt, welchem er auch allzu häufig Ausdruck verleiht. Und wenn er sich mit der Frage nach der Schuld am Tode seiner Frau beschäftigt, hört sich seine Schlussfolgerung – „Wahrscheinlich bin ich sehr sehr schuldig“ – beinahe selbstironisch und so gar nicht depressiv an. Diese Widersprüchlichkeit deutlicher zu machen bzw. tatsächlich nach dem Wesen von Depression zu fragen, was im Programmheft auch angedeutet wird, wären möglicherweise interessante Ansätze gewesen. So ist der Charakter jedoch oft zu bemüht melancholisch inszeniert und bleibt dem Zuschauer, ebenso wie die Beziehung zu Saša, unverständlich.
Talke möchte sich offensichtlich zu keinem Urteil hinreißen lassen: Die auftauchenden Fragen nach Menschlichkeit und einem menschenwürdigen Leben lässt er unbeantwortet. Dass er sich für keinen der beiden möglichen Ausgänge – Anna ist tot, in in Čechovs erster Fassung heiraten Ivanov und Saša anschließend, in der zweiten begeht Ivanov Selbstmord – entscheidet, lässt dem Zuschauer einerseits die Freiheit, selbst über ein plausibles Ende zu entscheiden. Andererseits verwehrt sich Talke damit aber auch, seinen eigenen Zugriff auf das Werk zu finden. So bleibt es bei einem grundsoliden Stadttheaterabend. Das Leipziger Premierenpublikum scheint das nicht zu stören.
Ivanov – Schauspiel Leipzig
Regie: Michael Talke
Premiere: 23.11.2013
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