Neue Nachrichten aus Russland. Zu Viktor Jerofejews Roman „Die Akimuden“
Alarm! Die Menschen flüchten in die Metro. Sirenen verkünden den Krieg. Der Erzähler sucht die Station „Majakowskaja“ auf, die er besonders mag, weil er sich seit seiner Kindheit darüber freut, dass im dortigen Mosaikbild die Turner über Apfelbäume und Matrosen fliegen. Der Angriff kommt nicht, wie erwartet, aus der Luft, die Toten kommen aus der Erde, aus den Wänden brechen sie hervor und das Mosaik zerplatzt. Nun murmelt auch hierzulande die Mär von der Auferstehung der Toten sonntags durch das Glaubensbekenntnis – doch wer hätte das so wortwörtlich verstehen wollen?
Der Konflikt des Romans eröffnet mittels eines Totensonntags mit Krawallkultur, dass alle Leserinnen und Lesern das Grausen kommen mag. Die Gerippe schaufeln sich den Weg frei und verbreiten einen mörderlichen Gestank. Aber Entwarnung: Auch wenn das 2013 unter dem Titel Akimudy bei Ripol Klassik in Moskau erschienene Buch sofort auf Deutsch bei Carl Hanser publiziert wurde, kommen die Toten vorerst nur in Russland heraus. Dort wollen die Götter – die in Wahrheit Enten sind – die Probe auf´s Exempel machen, denn wie schon Rilke hundert Jahre vorher, so tippt auch der Akimud, der Abgesandte und Sohn Gottes darauf, dass nirgendwo noch soviel Seele existiere wie in Russland.
Gleich zu Beginn laden drei dralle tote Weiber ins Restaurant ein, wahrscheinlich verflossene Geliebte, an die sich der Protagonist nicht mehr zu erinnern vermag. Die Wohnungen sind nun endgültig überbelegt. Die Sowjets – also die, die Perestroika und Glasnost lediglich als strafbares Hirngespinst mit Einladung ins Straflager kannten – sind wieder da, sie scheißen die Klos voll und klauen Glühbirnen zum Verhökern auf dem Schwarzmarkt. Hingegen beäugt der noch vorrevolutionär geborene Arzt misstrauisch den Boiler, der in der Wohnung an der Stelle befestigt ist, wo früher der Kachelofen stand.
Omon und Polizei hatten nichts ausrichten können, im Straßenkampf sind die Toten einfach aktiver. Am dritten Abend verkündet der „Chef“ den Sieg und in den nächsten Wochen zeigt sich, dass die Toten Wodka saufen und vögeln, wieder Fleisch ansetzen, und es soll sogar Ehepaare geben, die zum zweiten Mal geheiratet haben.
Bald wird eine größere Dienstwohnung zugewiesen, die Freundin, also die Venus von Mytischtschi, ist wieder da und eine Dienerschaft, bestehend aus den vom Tode erweckten Platon und Tichon, in denen die junge Frau ihre ehemaligen Vergewaltiger wiederzuerkennen glaubt, von denen sie aber nun bedient und als gnädige Frau angeredet wird.
Der Botschafter Winogradow lädt Akimud und dessen Gefolge, u. a. auch die schöne Konsulin Karla Karlowna und den kulturinteressierten Botschaftsattaché, zum Empfang. Die Geheimdienste arbeiten und die Amerikaner, die Akimud zunächst für den Vertreter irgendeiner Bananenrepublik hielt, werden hellhörig, als das Gerücht aufkommt, die Akimuden wollten Russland zu einer Stellung als unangefochtene Weltmacht Nummer Eins verhelfen. Anfangs noch unsicher, kann das Botschaftspersonal noch nicht mal die eigene Hauptstadt benennen, müssen sich die akimudischen Diplomaten noch an ihre russischen Namen und vor allem an menschliches Auftreten gewöhnen.
In Wahrheit war der Mensch, räumt Akimud ein, nur so zum Vergnügen erschaffen. Für Papa war die Erde wie Fernsehen, bis sie bemerkten, wie wenig Glaube übrig blieb, und dass alle Prüfungen und Demütigungen nicht etwa die Seele reinigten, sondern primitive Instinkte des Überlebenskampfes förderten.
Akimud schrieb in einem Brief an seinen Vater:
„Wir haben Russland bewusst in eine Folterbank verwandelt. Wir haben den Russen suggeriert, es gebe auf Erden kein Glück, ihre Antwort war eine utopische Metapher. Wir waren einverstanden. Es war uns wichtig zu verstehen, wie sich die Illusion vom Glück in eine wahre Hölle verwandeln kann. Aber sie haben keinerlei Schlüsse gezogen! Statt sich auf die Rettung zu konzentrieren, sind sie auf das pure Überleben unter übelsten Bedingungen heruntergekommen. Wir haben das Ziel verfehlt!“
In etwa hatten die alten Griechen recht, räumt Akimud ein, die Götter haben durchaus menschliche Züge. Akimud säuft und diskutiert, verliebt sich in die fromme Lisaweta, die Ikonen restauriert und in einem abgelegenen Kloster lebt. Während eines Besuches auf einem abgelegenen Dorf fallen die Einheimischen auf die Knie und rufen: „Du bist unser Zar!“
Die Handlung dieses Romans braust wie Orkan, von einer Plauderei über den ewigen Sonntag des Gentlemans bis zur Bombardierung von Sotschi muss alles erwartet werden, wenn das Gestern Heute wird.
II
Tschechow und Dostojeswki bei solch massiver Gelegenheit zur Erweckung der Toten unbedingt noch treffen zu wollen, natürlich auch Scholochow und Platonow usw., war ja von einem Schriftsteller nicht anders zu erwarten gewesen. Ganz zu schweigen von der Frechheit, Scholochow fragen zu wollen, ob er den Stillen Don wirklich selber geschrieben habe.
Großzügig drückt also Akimud auch hier ein Auge zu und lädt die Autoren ein, obwohl auftragsgemäß nur Interesse am gewöhnlichen russischen Menschen, nicht vor 1880 geboren, besteht. (Wer hier lamentiert, dass wenigstens Goethe hätte eingeladen werden können, dem sei gesagt, der Geheimrat fuhr bereits bei Arno Schmidt auf dem Moped mit – lesen lohnt sich eben doch…)
Für die Sendung eines Schriftstellers erfahren wir bei dieser Gelegenheit so etwas wie ein Credo oder die grundsätzliche Regel Viktor Jerofejews: Es ist nicht wichtig, dass er schreibt – denn irgendwas schreiben tun sowieso alle –, wichtig sei vielmehr, dass durch ihn geschrieben wird.
In die Versammlung der vom Tode beurlaubten Autoren spaziert auch Andreij Wosnessenkij herein, ein irrer Beatnik-Poet, der in diese Welt aus Genossen, Komsomolzen, Veteranen und Verwaltungsbeamten von der Sowjetunion aus bis in das Leseland DDR solche unvergessenen Worte schleuderte wie: „Beatnikgirl, bin verliebt in den Brand deiner Stockwerke!“ 1961 traute sich der Poet, an dessen Kartoffelnase sich Zeitgenosse und Kollege Jerofejew noch erinnert, zu schreiben:
„Wir sind die Beatniks.
Schimpfumschwirrt – sind wie wildes Wolfsgeheck.
Skandale schleifen mit Geklirr
wie Ketten hinter uns im Dreck“
Wie passend zum vorliegenden Roman nannte er seinen 1964 erschienenen Gedichtband Antiwelten, für uns übertragen von Jens Gerlach bei Verlag für Kultur und Fortschritt, Berlin 1967.
III
Einige kleinere Abirrungen in der ja oft bewusst und kunstvoll verwirrten Handlung stören sicher nicht, sollten aber doch erwähnt werden.
Nicht nur Akimud, sondern offensichtlich auch der Autor haben die „Karte der Unsterblichkeit“ – die im Besitz der Menschen angeblich hätte soviel Schaden anrichten können und in all diesen Extremsituationen sicher auch von Kurojedow und Winogradow, also von der Nomenklatura eingesetzt worden wäre – schlichtweg einfach vergessen.
Die Einführung der Olivenzeit, auf die Platon und Tichon auftragsgemäß ansprechen – nie wieder erwähnt.
Einige Passagen, besonders die essay-ähnlichen Teile wirken nicht mehr wie zur Fiktion des Romans gehörig, sondern sind schlicht und einfach Stellungnahme und Lebenserinnerung. Die aktuelle Reflexion auf politische Umstände der Gegenwart wirkt eher blass und deplatziert.
Auch das wirklich überzeugende Kapitel über Stalin wäre für die Handlung des Romans verzichtbar gewesen.
In der Runde der russischen und sowjetrussischen Schriftsteller hätte ich – um es mit den Wünschen zu übertreiben – fast einen lebenden Ehrengast aus den Niederlanden erwartet, nämlich Harry Mulisch, dessen Buch Die Entdeckung des Himmels in einer geschwisterlichen Verwandtschaft zu diesem Werk Jerofejews steht, so dass man auch interpretieren könnte, in gewisser Weise antwortet mit Die Akimuden Byzanz in russischer Variation auf die niederländisch-calvinistische Vorgabe.
Skandale gehören wohl zu so einem Traumtumult dazu, etwa wenn Hitler im Himmel der Akimuden erklären darf, er hätte doch nur die Schale des Blutes füllen wollen und Churchill und Roosevelt hätten das immer verstanden.
Dostojewskij, als ob es nicht reicht, dass ihn Lenin für seine grammatikalischen Schludereien verhöhnt hatte, wird hier unterstellt, er hätte in der Banja sexuelle Handlungen an einem fünfjährigen Mädchen vollzogen. Wirklich skandalös der Kommentar Jerofejews: „Und? Hat er deshalb aufgehört Dostojewskij zu sein?“
IV
Es klingt wie Liturgie über das Geheimnis des Glaubens, als die fromme Lisaweta sagt, wenn dieser Akimud in Wirklichkeit der Sohn Gottes sei, dann möchte sie weiter an Jesus Christus glauben. Jerofejew lässt die Antwort wie aus dem dunklen Resonanzraum der Geschichte kommen: Das sei dasselbe wie den Zerfall der Sowjetunion zu beklagen.
Durch einen einzigartigen Kunstgriff des Autors, weil wir nämlich einen fantastischen Roman lesen, in dem dann die Toten eigene Presse und sogar Totenfernsehen haben, wird das autobiografische Material relativiert. Die autobiografische Grundlage des fantastischen Romans, die berichteten Schmerzen sind echt, ein Skript für die Spaßgesellschaft liegt eindeutig nicht vor.
Identifikation mit der Welt dieses Buches stellt sich sicher nicht nur, aber vermutlich auch unter einer ganz persönlichen Anteilnahme für alle jene her, denen das Wort Osten mehr als Himmelsrichtung bedeutet.
Sind wir seit dem Wendejahr 1989 nach Westen verrückt und verrutscht worden? Sind schicker, schneller und in der Selbstwahrnehmung vielleicht auch oberflächlicher geworden? Immerhin werden jetzt auch in Leipzig eben diese schicken Autos produziert, auf die überspitzt verwiesen wird als Begründung, weshalb der Westen – obwohl er eine Zumutung an sich darstellt – noch sein Gutes hat.
Ganz unaufdringlich, wie das so ein grandioser Co-Akimud wie Jerofejew ermöglicht, enthält dieser Roman einen leichten therapeutischen Ansatz, denn die Toten sind auch Bestandteil unseres täglichen Lebens, die Schemen aus den Epochen ihrer Theorien und Irrtümer greifen auch in unseren schmalen Bereich der Gegenwart.
Nicht immer fröhlich, aber mystisch mit menschlichem Antlitz – dieses Buch ist ein großes Geschenk, genialer Roman!
Viktor Jerofejew: Die Akimuden
übersetzt von Beate Rausch
Hanser Verlag
München 2013
464 S. – 24,90 Euro
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