Die lange Antwort auf die kurze Frage

Kaum ein Autor wird momentan so heiß diskutiert wie der Norweger Karl Ove Knausgård. Was ist dran an diesem Literaturphänomen?

Karl Ove Knausgård 2010 in Göteborg (rechts, Foto: Boberger / CC BY 3.0 www.creativecommons.org)

Wer schon einmal auf einer Feier oder einer Dinnerparty zu Gast war, der wurde auch garantiert mehr oder weniger freiwillig in ein Gespräch mit einer Person verwickelt, die ihm oder ihr völlig unbekannt war. Besonders kritisch ist bei solchen Gesprächen die am Anfang oder nach ein paar ins Land gegangenen Minuten auftauchende Frage: „Und was machst du so?“. Was soll man darauf bloß antworten? Lullt man sein Gegenüber ein mit blassen Detailbeschreibungen des vornehmlich im Büro stattfindenden Alltags oder verweist man lieber auf künstlerische Umtriebigkeiten, die man früher unter dem Begriff „Hobbys“ zusammen gefasst hat, heute aber lieber als „Projekte“ in Angriff nimmt?

Stellen Sie sich nun vor, dass Sie die eingangs erwähnte Standardfrage einem Mann namens Karl Ove Knausgård stellen. Knausgård könnte Ihnen kurz angebunden mit den Worten „Ich bin Schriftsteller“ antworten oder Ihnen einen Stapel von sechs von ihm verfassten Büchern in die Hand drücken, der es insgesamt auf über 3.500 Seiten bringt. Diese sechs Bücher wurden in Knausgårds Heimatland unter dem Übertitel Min Kamp (ja, der Titel entspricht auf Deutsch genau dem, woran Sie gerade denken) veröffentlicht und haben sich dort extrem gut verkauft. Dabei sie alles andere als konventionelle Unterhaltungsliteratur wie die aus der Feder von Dan Brown, J.K. Rowling und Konsorten. Knausgård hat tatsächlich in allen sechs Büchern nur über sich selbst geschrieben. Damit ist die Min Kamp-Hexalogie eines der ehrgeizigsten autobiographischen Erzählprojekte seit Prousts Recherche oder Peter Kurzecks Das alte Jahrhundert. Im Gegensatz zu Proust und Kurzeck konnte Knausgård seinen Zyklus aber noch zu Lebzeiten beenden.

Auch in Deutschland hat sich Knausgård mit der Zeit zu einem Phänomen entwickelt, dem man in den Buchhandlungen der Republik kaum noch ausweichen kann. In den großen Buchtempeln der Innenstadt liegen die ersten vier mittlerweile ins Deutsche übertragenen Bände zum Teil stapelweise aus. Natürlich nicht unter dem Titel Min Kamp, sondern mit jeweiligen, passenden Überbegriffen wie STERBEN, LIEBEN, SPIELEN und LEBEN. Aber war ist eigentlich so spannend daran, der totalen Selbstentblößung eines Autors lesend beizuwohnen? Man kennt diesen Mann schließlich (noch) gar nicht.

Doch es macht bei aller Selbstdarstellung Knausgårds Spaß, ihm durch die Untiefen seines Lebens zu folgen. Sei es die problematische Beziehung zum alkoholkranken Vater (Band 1–4), das Kennenlernen der Frau fürs Leben (Band 2), die Kindheit in der norwegischen Schneeidylle (Band 3) oder die dauernotgeilen Adoleszenzjahre als Dorfschullehrer (Band 4), all das ist mit großer beiläufiger Verve erzählt und alles andere als überraschungsarm in seiner vordergründigen Banalität, wenn es um die erzählerische Gestaltung geht. Changierend zwischen Mini-Essays und einer erinnerungskünstlerischen Detailversessenheit, die zeitweise manische Züge annimmt. Da man als süchtiger Leser aber so oder so auch zwingend neugierig ist, gibt einem diese Detailflut erst recht den richtigen Kick.

Der große Erfolg der Knausgård-Bücher kommt wohl letztendlich unter anderem daher, dass Knausgård neben einer überintimen Autor-Leser-Beziehung es auch schafft, eine Authentizität und Unmittelbarkeit herzustellen, wie sie nur den Autoren vorbehalten ist, die ihr Handwerk wirklich beherrschen. Aufgrund des sehr sachlichen und einfachen Stils von Knausgård sind alle Bände, egal in welcher Reihenfolge man sie liest, auch nahezu jedem Leser zugänglich. So liegt letzten Endes das Urteil über diese eigenwillig gigantomanische Autobiographie nicht bei der Instanz der Literaturkritik, sondern ganz bei einem selbst. Will ich diesen rauchenden, saufenden und offensichtlich schambefreiten Knispel wirklich kennenlernen? Oder denke ich mich zurück in die Partysituation vom Anfang und unterbreche ihn in seiner Antwort auf meine „Was machst du so?“-Frage und flüchte zum Kühlschrank oder auf die Toilette, um mich danach mit jemand ganz anderem unterhalten zu können?

Alle Bücher aus Knausgårds autobiographischem Projekt erscheinen im Luchterhand Verlag; momentan liegt Band 4 „LEBEN“ (624 S., 22,99€) vor, Band 5 erscheint voraussichtlich im September.


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