In ihrem Roman „Untertauchen“ schreibt Lydia Tschukowskaja über sowjetische Schriftsteller im Winter 1949 und Erinnerungen an das stalinsche Straflager. Der Dörlemann hat es neu aufgelegt
Die Schriftsteller versammeln sich in nobler Herberge, die Atmosphäre zwischen Betriebsvergnügen und Langeweile, Konversationston und gutem Essen; dabei zieht der eine oder die andere sich zurück, um etwas zu überarbeiten, zu übersetzen, einfach nur zu lesen, nachzudenken oder zu träumen. Die Tischgespräche sind weit vorsichtiger zu genießen und könnten problematischer sein, als es den Anschein hat, denn in Stalins Russland – so meldet nicht nur die Stimme aus dem Rundfunkempfänger – haben sich Spione eingenistet, Spitzel des Imperialismus und kosmopolitische Verschwörer. Manch einem mag der Ton solcher Debatten noch in Erinnerung sein, die Formalismus unterstellen oder den Schriftsteller in die Produktion schicken wollen, aber das ist hier noch viel übler, wo man wegen der Liebe zu einem Dichter verdächtig, wegen eines Gesprächs verhaftet und umgebracht werden kann. Dennoch ist es fast Luxus für die stark autobiographisch an die Autorin angelehnte Ich-Erzählerin – im Roman Übersetzerin –, dass es das erste Mal seit dem Krieg möglich sein wird, in einem gut beheiztem Zimmer ungestört zu arbeiten.
Pasternak ist ein viel kritisierter Lyriker in jenen Jahren, dessen Verse abfällig besprochen werden, und noch nicht der geschmähte, aber auch gefeierte Dissident und Verfasser des berühmten Buches Dr. Schiwago, der den Nobelpreis nicht in Empfang nehmen darf. Mit dem sprechenden Namen „Wechsler“ wird die Figur des jüdischen Intellektuellen eingeführt, der auf Jiddisch und Russisch schreibt und allein durch seine Herkunft dem Sowjetregime verdächtig wird.
Wo andere schweigen oder sich hinter Allgemeinplätzen verstecken, lässt sich die Erzählerin in der Diskussion hinreißen zu sagen: „Und wie kommen wir bloß zu der Vorstellung, wir könnten einem Dichter immer und in allem folgen? Er ist uns doch so weit voraus. Er ist von diesem Wald, von dieser Sprache, von diesem Volk geboren und uns allen weit vorausgeschickt worden.“ Sie empfindet, dass der Dichter verraten wird, und mit der Ausrede, der einfache Mensch könne ihn doch nicht verstehen, auch der einfache Mensch, die Bauernkinder gleich mit verraten werden. Spätestens da wird unübersehbar, dass das dem Buch vorangestellte Motto Lew Tolstois „Die Moralität des Menschen zeigt sich in seinem Verhältnis zum Wort“ von ihr kompromisslos verstanden wird, während ihre Kollegen doch eher Zugeständnisse machen.
So auch Biblin, der Erinnerungen an das Straflager nutzt, die Landschaft und den Bergbau zu beschreiben, sich aber hütet zu offenbaren, dass er selbst Insasse des Straflagers war. Verständlicherweise, er ist nur kein Selbstmörder, denn im Jahre 1949 hätte man weit weg von Stalin und Berija sein müssen, um dokumentarisch wahr schreiben zu können. Man bedenke, dass auf dem Allunionskongress der Schriftsteller in Moskau 1934 Fadejew Rilke und Trakl zu jener Dekadenz zugehörig erklärt hatte, die vernichtet werden muss. Wie dekadent wäre für die Ideologen erst eine kritische Beschreibung des sozialistischen Gulags gewesen?
Dabei hätte die Erzählerin sich beinahe in Biblin verliebt haben können, der ihr auf einem Spaziergang durch das Birkenwäldchen von seiner Zeit im Lager erzählt, vom Sich-zu-Tode-Arbeiten bei verringerter Essensration. Biblin ist es auch, der ihr ein Zeichen aus der Welt ihres verschollenen Mannes Aljoscha bringen soll, der ihr erklären wird, was das heißt: Verurteilt zu Lager ohne Briefverkehr. Untertauchen wird hier möglicherweise zum Synonym jener Zustandsgebundenheit, die der geistige Arbeiter im Moment des schöpferischen Schreibens kennt. Wortwörtlich übersetzt sich „spusk pod vodu“ als ein Senken (des Kopfes) unter Wasser.
Tschukowskaja schreibt über Schmerzen und Sehnsüchte stellvertretend für alle Frauen, die um Auskunft über ihre Liebsten und Ehemänner, die Väter ihrer Kinder vergeblich auf den Fluren der Macht gebettelt und gefleht haben. Sie steht mit den Frauen in der Schlange, beschreibt den arroganten und anzüglichen Schnösel von Kommandanten und die formelhafte Abfuhr am Schalter.
Ljolka, ein einfaches Bauernmädchen, die im Schriftstellerheim arbeitet, bezieht das Bett der Autorin und versucht dabei, einen Blick auf das Buch zu erhaschen, das diese gerade liest. Sie selbst hat keine eigenen Bücher und darf aus der Bibliothek der Schriftsteller auch keine entleihen. Die Schriftstellerin aus Moskau greift sich ein Märchenbuch, besucht das Bauernmädchen in ihrer armseligen, von Not gezeichneten Behausung und liest ihr ein Märchen vor – das erste Mal überhaupt in ihrem Leben, dass Ljolka vorgelesen bekommt.
Die Autorin Lydia Tschukowskaja, geboren 1907 in St. Petersburg, hat erlebt, wie ihr Mann und viele Kollegen unter Stalin verhaftet und umgebracht wurden. Die Erlebnisse sind unter anderem Teil von Untertauchen aus dem Jahr 1947. 1974 wurde Tschukowskaja aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Untertauchen konnte erst 1988 in Moskau erscheinen, nachdem es bereits 1972 in den USA und einige Jahre später auf Deutsch aufgelegt worden war. Lydia Tschukowskaja starb 1996 in Peredelkino. Bitte lesen, vielleicht aber nicht zu schnell!
Lydia Tschukowskaja: Untertauchen
übersetzt von Swetlana Geier
Dörlemann Verlag
Zürich 2015
256 S., 18,90 €
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