Politik der Verfahrenheit

Der französische Philosoph Jacques Rancière liest und diskutiert beim Leipziger Literarischen Herbst. Gewinnertext des Friedrich-Rochlitz-Preises 2015, 2. Platz

Jacques Rancière in Sevilla 2006(Foto: Saibo, CC BY 2.0: www.creativecommons.org)

Ein gefüllter Saal und andächtige Gesichter. Wichtige und gewichtige Mienen recken vorsichtig den Hals, um das Rednerpult erkennen zu können. Der kleine, graue Mann am Rednerpult ist Jacques Rancière, einer der letzten seiner Art, in einer Veranstaltung, die die letzte ihrer Art ist. Seine Gestalt kann einem nicht sagen, mit wem man es zu tun hat: silbernes Haar, abgenutztes Jackett und ein müder Blick, abwesend an der gegenüberliegenden Saalwand aufgehangen. Es ist ein Zusammenspiel aus der Geste und dem Symbol, in das der französische Philosoph geraten ist. Das Institut français lud ihn im Rahmen des 19. Literarischen Herbstes ein, aus seinem zuletzt erschienenen und übersetzten Buch „Der verlorene Faden: Essays zur modernen Fiktion“, in der Stadtbibliothek Leipzig zu lesen. So interessant dieses Buch auch ist, hatte der Löwenanteil der distinguierten Besucher dieses wahrscheinlich nicht gelesen: Der Franzose ist hierzulande noch sehr unbekannt und sein Werk kaum übersetzt. Was die Menschen hierher zieht, ist eines der letzten Personifikationen des Aussterbens einer redenden, sich an die Masse wendenden Philosophie.

Ranciere räuspert sich, hustest kurz und entschuldigt sich, dass er heute nicht aus seinem Buch lesen wird, sondern lieber Fragen beantworten möchte und beginnt postwendend, auf die Frage des Moderators hin, über seine Philosophie zu sprechen; er überschlägt sich: Seine Sprache ist schnell und seine Gedanken sind verworren. Kaum einer im Saal hat jedoch seine Kopfhörer auf, keiner möchte die glückliche Simultanübersetzung in Anspruch nehmen. Was er sagt, scheint zweitrangig, dass er da ist, dass er redet, das ist von vordergründiger Bedeutung für das schnoddrige Publikum. Über das Interesse an seinem Buch reagiert Rancière abwesend und abwinkend. Er erzählt vornehmlich, versunken, von der Wahrnehmung der Philosophie in der französischen Gesellschaft der 70er-Jahre und seinem früheren Verhältnis zu Althusser, Focault und Badiou. Von Zeiten einer Philosophie in Frankreich, da sie auf dem Gesicht der Jugend durch das Mark der Gesellschaft defilierte.

Und er hat Recht darüber zu reden, zu zeigen, dass gelebte Philosophie keine Reflexion mehr ist, sondern bloße Unterhaltung. In seinem fahrigen Französisch verweist Rancière auf die radikale Veränderung des Zusammenhangs von Politik und Philosophie hin: auf eine entpolitisierte Philosophie, wie auch eine philosophielose Politik. Der Saal, gefüllt mit Kulturträgern, nickt einstimmig, ernst und verständnisvoll – wie alle, die einem guten Freund, der zwar nett ist, aber zu beunruhigt und hektisch spricht, höflich zunicken, ganz als ob sie ihm zugehört, gar verstanden hätten. Als Philosoph der gesellschaftlichen Konflikte und Kämpfe, weiß Rancière wovon er spricht, wenn er auf die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit einer Kulturpolitik pocht, die einzig zu ihrem eigenen Gegenstand geworden ist. Verstanden hat es wohl leider niemand, was an der Fülle seiner Gedanken, seinem zerstreuten Wesen oder – sehr wahrscheinlich – an der Wolke kumulierten Raunens im Zentrum des Saals, erzeugt durch die Simultanübersetzung im Nacken der Zuhörer, gelegen haben mag.

Letztlich wendet er sich an das Publikum und beantwortet dessen Fragen: Zu Wort kommen aber nur jene, die einhellige Experten französischer Philosophie sind. So unverständlich korrekt auch die Fragen über den winzigsten Begriff im Werke Rancières auch sind, er weiß sie geschickt und handwerklich präzise zu zerpflücken und anschließend eklektisch zu monologisieren. Er ist eben durch und durch Philosoph alter (französischer) Schule, was ihm fehlt, ist das Interesse der Menschen an lebendiger Philosophie; was er bekommt, ist die Genusssucht der Zuschauer nach gehobenem Spektakel.

Während ein Großteil des Publikums sich nach dem Ende der Lesung vor den Türen der Stadtbibliothek trifft, um sich über den Sinn und Unsinn ihrer Anwesenheit auszutauschen und besonders, um sich ihre wohlverdiente Kippe danach zu genehmigen, tritt ein kleiner, grauer Mann mit einer blassbraunen Lederaktentasche langsamen Schrittes die Treppe hinunter, schaut sich unbedarft den Nachthimmel an und geht, ohne dass es jemand bemerkt hätte.

Lesung und Gespräch mit Jacques Rancière

Übersetzer der Veranstaltung: Vincent Wroblenski

Eine Veranstaltung des Institut français

Im Rahmen des 19. Leipziger Literarischen Herbstes

Stadtbibliothek Leipzig, 23. Oktober 2015


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