Bourgeoisie hat ihren Preis

Julia Decks neuer Roman „Winterdreieck“ handelt von der Unlust an der Erwerbsarbeit und dem Spiel mit Identität

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Julia Deck, Jahrgang 1974, ist Schriftstellerin in Paris. Nun erschien ihr Roman Winterdreieck auf Deutsch. Das Urteil der Leserinnen und Leser über ihre Protagonistin Bérénice dürfte gespalten sein, denn jene, die ohne ihre Arbeit nicht leben könnten und finden, dass alles seine Ordnung haben muss, werden sich wohl leicht angeekelt von diesem Flittchen abwenden, das auf dem Arbeitsamt die Vermittlerin ignoriert und mit Hingabe die Steckdose anstarrt. Andere aber, die dem Erwerbsleben nicht so treu ergeben sind – der blasse Student mit der Lyrik-Zeitschrift, die Freunde des Sabbatjahres oder etwaige Träumerinnen und Träumer aus dem Reich der sozialen Hängematte – werden wohl eher zwischen Mitleid und Anteilnahme schwanken.

Die aufmüpfige und gelangweilte Aushilfsverkäuferin, durch die Verweigerung des Urlaubs im Sommer frustriert, hält ein Rührgerät bedenklich nah an das Gesicht des Abteilungsleiters und schon ist das Arbeitsleben für längere Frist unterbrochen. In ihrem Postkasten häufen sich bald ungeöffnete Briefe mit jenem gewissen faden Charme, wie sie nur ein behördliches Schreiben aufweist. Romanschriftstellerin, das müsste ein Traumberuf sein, fantasiert sie, erinnert sich eines Fernsehbeitrages, weiß wohl aber nichts über die Mühen des Schreibens. Das mit Strass besetzte Heftchen, das sie sich kauft, enthält jedenfalls keine Erzählung, nicht einmal eine Skizze.

Die Hochstaplerin ist blond und wirkt faszinierend, noch kann sie den Bonus jugendlicher Weiblichkeit genießen. Was hat sie also zu geben, womit könnte sie ihre Wünsche erfüllen? In der fremden Küstenstadt vögelt sie schon mal mit dem Lageristen, um an Markenklamotten zu kommen. Der Schiffbauinspektor aber verliebt sich in sie, bezahlt Hotels und gutes Essen. Natürlich stellt er nach einiger Zeit Fragen, will die Schriftstellerin Bérénice Beaurivage kennenlernen.

Verliebte, man kennt das aus Filmen und Büchern, sind zunächst so herrlich naiv, um nicht zu sagen blöd. Dieser kleine Roman hat 139 Seiten und erst auf Seite 92 schaut der Ingenieur, dem bisher nur gelegentliche Zweifel gekommen waren, ins Internet und schlussfolgert messerscharf: Bérénice, dich gibt es nicht! Statt dessen kommt er bei seinen Recherchen auf einen Film von Éric Romer, in dem eine gewisse Bérénice mit einer Schauspielerin besetzt ist, die seiner Begleiterin ähnelt.

Nun aber wenden wir uns der Frage zu, warum der Klappentext lügt, denn dort ist zu lesen: „Als er schließlich begreift, dass ‚Mademoiselle‘ erstens wirklich einen Knall oder das Gedächtnis verloren hat und ihn zweitens nur ausnutzt, will er sie mit allen Mitteln, wieder loswerden …“ Da scheint Thrill angesagt, gefesselt und betäubt wird er unsere kleine Lügnerin in einem Nebenarm der Seine versenken wollen.

So aber verhält es sich keineswegs: der enttäuschte und übrigens gar nicht so gut bemittelte Ingenieur lässt sie trotzdem bei sich wohnen, toleriert die Nutzung seiner Lebensmittel im Kühlschrank und bestellt sogar eine Putzfrau. Er rührt die einstige Geliebte nicht an, erkundigt sich aber auf dem Arbeitsamt und will einen Psychologen konsultieren. Das verantwortungsvolle Verhalten des Ingenieurs und Schiffbauinspektors ist das eigentliche Wunder des Romans, manch anderer enttäuschte und vorgeführte Liebhaber hätte die inzwischen ungeliebte Dame einfach rausgeschmissen. Als der Inspektor alles ihm denkbare versucht hat, geschieht das endgültige Adieu mit einer Noblesse, die die Barschaft von Mademoiselle um eine Abschiedsgabe von zweitausend Euro erhöht. Am Ende versucht sie es eifrig und für eine kurze Phase vorbildlich mit ein paar Jobs, dann fehlt es ihr doch wieder an Ausdauer für das Arbeitsleben und sie wird erneut Phantasien um einen lautmalerischen Namen hinterherjagen.

Weil nicht anders vermerkt, erwartet das Publikum, dass der Roman in der Gegenwart spielt, allerdings verweisen einige Fakten eher auf die Neunziger. Das Handy wird erwähnt und es heißt da, dass so ein mobiler Service die Mittel von Mademoiselle übersteige. Meine Recherche ergab aber, dass Prepaidkarte und ein preiswertes oder gebrauchtes Telefon auch in Frankreich verfügbar sind. Auch das Aufsuchen der Mediathek, was wohl in etwa der uns bekannten Videothek entsprechen dürfte, weist ebenfalls auf ein anderes Jahrzehnt als das unsere, in dem Filme einfach gestreamt werden.

In der sonst flüssigen Übersetzung wirkt das wenig bekannte Fremdwort amniotisch eigenartig steif. Nach einigem Nachschlagen erklärt sich amniotisch als Haut der Fruchtblase, die in ihrer Schutzfunktion mit der Wärme und Abgeschiedenheit des Hotelzimmers verglichen wird – da wäre wohl ein bessere Übersetzung der Situation, in der sich die junge Frau vom Hotelzimmer wie von der Mutterglucke beschützt fühlt, zu wünschen.

Die Gestaltung der wörtlichen Rede dürfte mitunter Proteste von Lehrerinnen und Lehrern auslösen, denn Anführungszeichen wie der Doppelpunkt fehlen, und manchmal sind die Zeilen, in denen Bérénice oder der Ingenieur spricht, nicht mal eingerückt, sondern stehen einfach so im Text. Aber wir wissen ja, was gemeint ist, und das dürfte überhaupt die große Chance und auch die Krux des Büchleins sein.

Besonders die männlichen Leser könnten eine der Schwestern von Bérénice Beauriviage längst in der Bar nebenan getroffen haben, andere werden sich vielleicht noch an einen Roman wie Bonjour Tristesse von Françoise Sagan oder hierzulande an die Erzählung Schöne Elise von Hermann Kant erinnern. Jede Epoche prägt allerdings eine eigene soziale Kälte, das macht unser Mädchen in ihrer Beschädigung – dank ihrer genauen Analyse durch Julia Deck – so unverwechselbar. Warten Sie nicht, bis der Film nach dem Buch im Schaukasten des Passage-Kinos angekündigt wird. Ein großer kleiner Roman! Unbedingt zu empfehlen.

Julia Deck: Winterdreieck

aus dem Französischen von Antje Peter

Wagenbach Verlag

Berlin 2016

144 – 14,99 Euro


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