Selbstkritik wider Willen

Für ihren Roman „Schäfchen im Trockenen“ hat Anke Stelling den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten. Eine umstrittene Entscheidung, aber vielleicht ein erster Schritt, die muffigen Räume des Literaturbetriebs zu lüften

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Anke Stelling erhält den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik (Foto: Tom Schulze)

Die Verleihung des diesjährigen Preises der Leipziger Buchmesse ist ein Weckruf an den gesamten deutschen Literaturbetrieb. Der Preis in der Kategorie Belletristik ging an Anke Stelling vom unabhängigen Verbrecher-Verlag. Stelling wird von dem Literaturbetrieb gekürt, den sie in ihrem Roman unbarmherzig auseinandernimmt. Das ist doch mal etwas Neues! Auch wenn „Schäfchen im Trockenen“ den Buchpreis verdientermaßen gewann, ist der Betrieb verständlicherweise nicht ganz zufrieden damit.

Anhaltspunkt dafür ist die scharfe Kritik von Iris Radisch in der „Zeit“ („Im Höllenkreis der Baugruppe“), aus deren Zeilen gegen Stellings literarischen Stil der Vorwurf der Nestbeschmutzung geradezu herausquillt. Dabei spricht sie vielleicht das aus, was der Rest des Feuilletons sich noch nicht recht getraut hat zu fragen: Ist die Frau denn eine von uns? Das Pochen auf „korrekte“ poetische Sprache ist dabei der Verweis auf Anke Stellings (Klassen-)Herkunft. Und genau diese versucht sie mit ihrem Roman auf jeder nur möglichen Ebene zu zerlegen, zum einen sprachlich, indem sie Sinn und Zweck von alltäglichen Wendungen nachspürt, zum anderen inhaltlich, indem sie den biographischen und milieuspezifischen Verschiebungen ihrer Protagonistin auf den Zahn fühlt. Sie versucht, wie man so sagt, sich einen Reim darauf zu machen: „Der Akt der Selbstermächtigung, der im Erzählen liegt, ist sprichwörtlich geworden.“

Das alles schafft sie mit einer allgemein verständlichen Sprache, die nicht so sehr „literarisch unbedarft ist“, wie Radisch konstatiert, als vielmehr inhaltlich zwingend: Stilistisch ist der Roman ein atemloser Kritik an der gesellschaftlichen Stellung von Frauen, Müttern und Autorinnen in Unter- und Mittelschichtspositionen – etwas, das lange gärt und endlich raus muss. Blumige Umschreibungen und Abschweifungen wären ganz fehl am Platz, auch wenn das Feuilleton erst damit umgehen lernen muss. Julia Encke deutet in der „FAZ“ („Gegen das gewaltige Gewoge!“) ebenfalls darauf, wenn sie die nominierten und letztlich unterlegenen Bücher von Feridun Zaimoglu und Kenah Cusanit in einem sprachlichen Milieu verortet, das alle Wörter in bildungsbürgerliches Dröhnen verwandelt. Eine Sache, an die wir uns lange gewöhnt haben, ohne je zu hinterfragen, warum es eigentlich so ist. Die diesjährige Preisverleihung stellt deshalb eine Art überraschenden Anfang dar.

„Schäfchen im Trockenen“ enthält den Einblick in einen Betrieb unter Legitimationszwang: „Schreiben ist zu nah am Reden, und was die Kunst daran ist, verschwimmt in der Alphabetisierung.“ Das Hochstapler-Syndrom, das die Protagonistin Resi durchweg verfolgt, zwingt auch den Literaturbetrieb ständig dazu seine Rolle zu übertreiben: Solange keiner versteht, was wir schreiben, merkt keiner, dass Schreiben etwas ist, das potentiell jeder kann. Das führt zu Ausschlussreflexen, die erst durch die Kür von Anke Stelling in ihrer Verzweiflung sichtbar werden. Mit der überraschenden Entscheidung, einer der schärfsten Kritikerinnen des Literaturbetriebs den wichtigsten Literaturpreis des Frühjahrs zu verleihen, hat die Jury gezeigt, dass sie willens ist, sich dieser Angst zu stellen. Der Leipziger Buchpreis an Anke Stelling für ihren Roman „Schäfchen im Trockenen“ ist vielleicht ein erster Schritt, die muffigen Räume des Literaturbetriebs ein wenig zu lüften.

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Schäfchen im Trockenen

Von Anke Stelling
Verbrecher-Verlag
Berlin 2018

300 Seiten, 22 Euro


Zur Website des Preises der Leipziger Buchmesse
Zum „FAZ“-Artikel „Gegen das gewaltige Gewoge!“ von Julia Encke
Zum „Zeit“-Artikel „Im Höllenkreis der Baugruppe“ von Iris Radisch

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