Sicherheit oder Selbstermächtigung?

DOK Leipzig: Natalia Preston zeigt in ihrem Langfilmdebüt „Girls of Paadhai” die Kraft, die Frauengemeinschaften erreichen können

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Junge Inderinnen können in Chennai in einer Art Frauenhaus Zuflucht finden. Z.B. wenn sie nicht wollen, dass sie zwangsverheiratet werden (Foto: DOK Leipzig 2019).

Was heißt es zu lieben? Wie lebt man miteinander? Ist eine Liebesheirat besser als eine arrangierte Heirat? Fragen, die sich junge Mädchen in Indien zu Beginn von Girls of Paadhai stellen. Wenn sie denn die Freiheit haben, sich damit überhaupt auseinander zu setzen. Denn in Indien ist es immer noch üblich, dass die Eltern schon im frühen Alter die Heirat ihrer Kinder arrangieren. Gerade junge Mädchen haben so nie eine Wahl, wie sie ihr Leben gestalten möchten.

In Chennai gibt es eine Art Frauenhaus – „Paadhai“ genannt. Dort können Mädchen und Frauen unterkommen, die Hilfe brauchen. Auch, wenn sie gegen ihren Willen verheiratet werden sollen. Wir lernen Amulpriya kennen. Sie lebt, seit sie 13 ist, in Paadhai. Ihre Mutter wollte sie damals zwangsverheiraten, Amulpriya wollte lernen und studieren. Sie wollte ihren eigenen Weg gehen, sie hat sich damals durchgesetzt. Doch jetzt steht sie kurz vorm College-Abschluss und die Forderung der Mutter gewinnt wieder Raum.

Die Kamera ist dabei, wenn Amulpriya zu Hause mit ihrer Mutter diskutiert. In diesen Gesprächen wird ersichtlich, wie absurd die Forderung der Mutter ist. Sie selbst wurde mit 14 verheiratet, aber ohne dabei Glück oder zumindest Absicherung zu erfahren. Ihr Mann war Alkoholiker und ist früh gestorben. Sodass die Mutter sich selbst ermächtigen musste. Und jetzt fordert sie von ihrer Tochter ebenfalls zu heiraten, anstatt sich vernünftig weiterzubilden und einen Job zu suchen. Das scheint irrational. Es wird klar: Die Gesellschaftsstrukturen sind in Indien noch längst nicht so aufgeklärt. Eine Tochter mit 21 unverheiratet zu lassen, führt zu bösem Gerede. Der Bruder wirft ein: „Ich kann erst heiraten, wenn du verheiratet bist.” Lange wehrt sich Amulpriya zäh, denn gerne möchte sie noch weiter studieren.

Die Nähe, die bei diesen Gesprächen entsteht, ist unglaublich berührend. Jede Seite argumentiert nachvollziehbar. Besonders schön ist zu sehen, wie Sunitha, eine Sozialarbeiterin von Paadhai, die Gespräche moderiert. Sie gibt jeder ihren Raum und lässt die Frauen auch autark entscheiden. Was zuweilen zu schwierigen Entscheidungen führt. So leben zwei Schwestern (Manila, 10, und Manisha, 7) ein Jahr in Paadhai, bis die Größere entscheidet, wieder zurück nach Hause zu gehen, obwohl es ihr im Haus viel besser geht. Am Ende muss auch die Kleine mit nach Hause, eine Entscheidung, die deren Leben radikal verändern wird – Ausgang ungewiss.

Alle Frauen im Film wirken auf ihre Weise stark. Die Sozialarbeiterin Sunitha hält alles zusammen und arbeitet mit einfühlsamer Klarheit für das Wohl der Mädchen. Amulpriya und die 10-jährige Manila wissen genau, was sie wollen und setzen sich zumindest zeitweise durch. Männer sind im Film so gut wie nicht zu sehen. Und aus Erzählungen wirken sie wie Taugenichtse. Das ist ein klares Statement für die Selbstermächtigung der Frauen in Indien, die immer noch so diametral zum Gesellschaftsbild steht. Deshalb ist es schön, dass es einen Ort wie Paadhai gibt, an dem Frauen miteinander und füreinander sorgen, generationsübergreifend.

Natalia Preston begleitet das gesamte Geschehen dabei unkommentiert. Sie hat sich für den „Direct Cinema“-Stil entschieden, Hintergrundwissen erschließt sich somit nur zwischen den Zeilen. Als Zuschauer erfährt man weder, wie sich die Einrichtung finanziert, noch wie die Organisationsstruktur aufgebaut ist. Doch letztlich schafft Preston ein emotionales Porträt, welches viel mehr Gewicht hat als alle möglichen Fakten.

Girls of Paadhai

Deutschland 2019; 90 Minuten

Regie: Natalia Preston

DOK Leipzig 2019, Internationaler Wettbewerb langer Dokumentations- und Animationsfilm

Vorführungszeiten, Katalogtext

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