Gilles Jobin betritt mit „VR I“ ästhetisches Neuland, belässt es aber bei einer verspielten Ouvertüre.
Das Publikum tapst mit schweren Brillen vorsichtig durch die Blackbox. Einer kichert leicht verstört. Der Großteil der Zuschauer ist noch nicht vertraut mit virtuellen Räumen. Und wie das zu einem Tanzstück werden soll, kann sich noch niemand so richtig vorstellen. Denn der Schweizer Choreograph Gilles Jobin nutzt als einer der Ersten im Tanzbereich die Technik der Erschaffung virtueller Realitäten. In „VR I“ choreografiert er nicht nur ein Tanzensemble, sondern gleich eine ganze Welt. Für diese Pionierarbeit hat er 2017 den Grand Prix für das innovativste Werk sowie den Publikumspreis des Festival du nouveau cinema in Montréal erhalten. Und auch dem Leipziger Publikum fängt diese Arbeit, bei der jeder selbst zum Avatar wird und mittanzen darf, langsam an zu gefallen.
Aber was sehen wir hier eigentlich? Eine karge zerklüftete Landschaft. Felsen. In der Ferne weiße Büsten. Die Osterinsel? Menschen in unterschiedlicher Entfernung. Riesen die auf uns zu laufen, um uns herum die Seitenwände eines Galerieraums aufbauen. In der Galerie sehen wir Bilder von Francis Bacon, Henri Matisse, George Braque. Auf allen Ebenen des Raums erscheinen nun die Tänzer. Sie bewegen sich leichtfüßig vor dem Fenster, auf einem Balkon, in den Zwischenräumen des Publikums und durch den einzelnen Zuschauer hindurch. Einige von ihnen bewegen sich vorsichtig mit, schmiegen sich an die virtuellen Tanzpartner, um dann wieder den Blick im Raum schweifen zu lassen, wo jetzt plötzlich Miniaturtänzer auf dem Fußboden zu finden sind. Nicht drauftreten! Schließlich gelangen wir in einen freundlichen Stadtpark mit geometrisch geschnittenen Hecken und Bäumen, dahinter spiegelnde Hochhausfassaden, düstere Felsen. Sich abstrakt bewegende Körper kommen auf uns zu wie freundliche Tiere. Alle in diesem Park sind scheinbar lustvoll in Bewegung, tanzen in Gruppen, als Paar, allein, einen immer gleichförmigen leicht variierten Bewegungsablauf.
Das Auge verliebt sich durchaus in die Landschaften und Räume, die Gilles Jobin zusammen mit Artanim, einer gemeinnützigen Organisation aus Virtual Reality Spezialist*innen, kreiert hat. Nur das Tänzerische scheint in dieser Arbeit etwas zu kurz zu kommen, wenn dieses Ensemble aus fast ebenbildlichen Figuren in den immer gleichen Bewegungen den Raum absteckt. Diese „VR I“ erzählt von der Entstehung des modernen Tanzes am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, von der Befreiung der Bewegung und so kann man vielleicht auf „VR II“ gespannt sein, falls diese Geschichte sich fortsetzt, um dann ein vollständigeres Bild des Werkes zu haben. Provokant ist „VR I“ auf jeden Fall. Allein schon durch den Verzicht auf den Tänzer als Künstler. Diese Vorstellung wird sicher für viel Diskussionsstoff sorgen.
»VR_I« – Tanz im virtuellen Raum
Compagnie Gilles Jobin & Artanim, Genf
Konzeption und Choreografie Gilles Jobin
Virtual-Reality-Technologie: Artanim
Deutschlandpremiere Mittwoch, 6.11.2019 – Schauspielhaus, Diskothek
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