Erobert den Film!

Französische Revolution, Arabischer Frühling, Ai Weiwei und die rote Traumfabrik: Die 62. Berlinale zeigt Aufbrüche und Umbrüche – mal mutig, mal mau

Postrevolutionäre Science-Fiction: Jakow Protasanows „Aelita – Der Flug zum Mars“, UdSSR 1924 (Bilder: Berlinale)

Journalisten bräuchten ja immer einen roten Faden, selbst wenn es keinen gäbe, bräuchten sie einen, scherzte Dieter Kosslick, Berlinale-Direktor und notorischer Scherzkeks, auf der Pressekonferenz vor dem Festival. Diesmal wäre er leicht zu finden gewesen: Aufbrüche und Umbrüche. Schon allein wegen des „Fokus Arabischer Frühling“ und der Retrospektive zum deutsch-russischen Filmschaffen der 20er/30er Jahre. Da bedurfte es natürlich auch zur Berlinale-Eröffnung eines Revolutionsfilms. Wie geschaffen schien dafür Les adieus à la reines (Leb wohl, meine Königin!), der Wettbewerbsfilm von Benoît Jacquot über den Untergang des Hofstaats in Versailles, sozusagen die Mutter aller Revolutionen.

Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Chantal Thomas, kreist Jacquots Kostümfilm um Marie Antoinettes junge Vorleserin Sidonie, die ihrer dahinsiechenden Königin bis zur Selbstaufgabe verfallen ist, während das übrige Dienstpersonal längst über den Sturm auf die Bastille tuschelt und den Respekt gegenüber dem Adelsgeschlecht verloren hat. Mit entzauberndem Realismus zelebriert Jacquot die Endzeitstimmung am von Ratten bevölkerten Hofe aus der Perspektive der Lakaien. Die beabsichtigte subversive Kraft des Films verpufft jedoch alsbald, wenn sich die Geschichte auf ein schlichtes Psychodrama in barocker Pracht zuspitzt. Weil es der Königin verwehrt ist, vom Hofe zu fliehen, möge wenigstens ihre Geliebte, die Herzogin Polignac, entkommen – im Gewand einer Bediensteten, während die ergebene Vorleserin als Herzogin verkleidet dem Tod ins Auge sehen muss.

Wettbewerbsfilm „Les adieus à la reines“ („Leb wohl, meine Königin!“)

Die Analogie zur arabischen Welt wirkt da eher bemüht als offensichtlich, weil das eigentlich Erhellende, nämlich der revolutionäre Impetus der Aufständischen und Unterdrückten mit ihren ureigenen Gefühlen und Beweggründen, weitgehend unentdeckt bleibt. Sogar der vielbeachtete „Fokus Arabischer Frühling – From and About the Arab World“ bleibt da reichlich distanziert, weil man zumindest einigen dieser Filme deutlich anmerkt, dass sie aus der Perspektive von Außenstehenden entstanden sind, die ihre vorgefertigten Bilder und Stereotypen aus dem Westen bestätigt sehen wollten. So porträtiert der Engländer Sean McAllister in The Reluctant Revolutionary weder mitreißend noch verblüffend von einem jemenitischen Reiseveranstalter, der der Revolution erst skeptisch gegenübersteht und sich ihr später doch anschließt. Andere Dokumentaristen bringen wenigstens arabische Wurzeln mit wie die beiden von ägyptischen Familien abstammenden Filmemacherinnen Mai Iskander (Words Of Witness, geboren und aufgewachsen in den USA) und Hanan Abdalla (In The Shahow Of A Man, geboren und aufgewachsen in England). Ihre Filme sind weder falsch noch verwerflich, aber es fehlt ihnen die authentische Innenperspektive des Arabischen Frühlings, die uns im Westen überrascht und die Fremde wirklich näher bringt.

Subversion ist auch in China zu beobachten. Zum Gesicht der Regimekritik ist in den letzten Jahren wie kein anderer der Künstler Ai Weiwei geworden, dem der Berliner Martin-Gropius-Bau noch bis zum 18. März eine Fotoausstellung widmet: Ai Weiwei in New York – Fotografien 1983-1993. Zur Berlinale hat nun die junge US-Journalistin Alison Klayman ein mit Spannung erwartetes Dokumentarfilmporträt mitgebracht, für das sie den Künstler und Aktivisten drei Jahre lang begleitet hat: Ai Weiwei: Never Sorry. Von großer Tiefe ist ihr Film immer dann, wenn sie dem Künstler kommentarlos nahe kommt und ihn beim Spiel mit Katzen oder Polizisten beobachtet. Beliebig und belanglos ist er immer dann, wenn sie in fernsehjournalistischer Manier auf Interviews mit Weggefährten, Twitter-Meldungen und privates Archivmaterial zurückgreift. Hinter dem lang anhaltenden Premierenapplaus steckte wohl eher die Solidarität mit dem Protagonisten, der sein Land übrigens nach wie vor nicht verlassen und keine Interviews geben darf.

Dokfilm „Ai Weiwei: Never Sorry“

Aufbrüche und Umbrüche – fast wäre Kosslicks roter Faden zum Motto filmischer Ausdruckslosigkeit verkommen, wäre da nicht die beeindruckende Retrospektive „Die rote Traumfabrik“ über das deutsch-russische Filmstudio Meschrabpom-Rus (später Meschrabpom-Film). In den Jahren 1921 bis 1936 entstanden dort fast 600 russische und deutsche Spiel-, Dokumentar- und Trickfilme, darunter zahlreiche Klassiker wie Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin, Slatan Dudows Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt? oder Wsewolod Pudowkins Das Ende von Sankt Petersburg.

Seinen Ursprung hat das Filmstudio in der Zusammenkunft des jungen Kommunisten Willi Münzenberg, der sich 1921 mit der Internationalen Arbeiterhilfe für die Hungersnot an der Wolga engagierte, und des erfahrenen Produzenten Moisej Alejnikow, der aus der Zarenzeit sein Studio Rus zu retten versuchte. Ihr Ziel war die Verknüpfung von Ideologie und Geschäftssinn, sie wollten kommerzielle Filme mit revolutionärem Anstrich produzieren. Erobert den Film!“ lautete etwa der kämpferische Titel einer Programmschrift Willi Münzenbergs von 1925, in der er zu einer eigenständigen „proletarischen Kinoarbeit“ aufruft, die letztlich auch die Filmsprache revolutionierte. In Kooperation mit der Berliner Prometheus Film entstand zwischen beiden Ländern ein reger Film-Austausch – nachzulesen in der gleichnamigen Publikation von Alexander Schwarz und Günter Agde, das lesenswerte Resultat einer dreijährigen Forschungsarbeit. Seine Fortsetzung findet die Retrospektive übrigens bei der Leipziger Dokfilmwoche im Herbst.

62. Internationale Filmfestspiele Berlin (Berlinale)

9. bis 19. Februar 2012

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