Abseits vom Erfolgsnarrativ

Patrice G. Poutrus zeichnet in „Umkämpftes Asyl“ die bewegte Geschichte des deutschen Asylparagraphen nach und zwingt zur kritischen Selbstreflexion

Am 28. Juni 1993 wurde der sogenannte Asylparagraph im Grundgesetz geändert. Diesem Ereignis waren vier Jahrzehnte andauernde, hitzige öffentliche Debatten vorausgegangen. Das Buch von Patrice G. Poutrus „Umkämpftes Asyl“ stellt eine zeithistorische Darstellung der Vorgeschichte, des Verlaufs und der Folgen der Verfassungsreform des Asylrechts in Deutschland dar. Der Autor fragt, warum ausgerechnet der knappe Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ zu einem so großen Verfassungskonflikt im vereinten Deutschland geführt hat.

In der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik hatte es bis zum Inkrafttreten des neuformulierten Asylrechts bereits 38 andere Grundgesetzänderungen gegeben. Keine hat jedoch zu einer vergleichbaren politischen Mobilisierung und polarisierenden Auseinandersetzung geführt. Für die einen stellte eine offene Flüchtlings- und Asylpolitik die Garantie für eine grundsätzliche Abkehr von der rassistisch geprägten Vergangenheit und insbesondere vom Nationalsozialismus dar. Für die anderen bedeutete sie einen Bruch mit dem Paradigma des Nichteinwanderungslandes Deutschland. Der allgemeine Konsens, dass die Berliner Republik grundsätzlich ein liberales Asylrecht besitzt, das nur innerhalb restriktiver Begrenzungen angewendet wird, zerbrach allerdings an der Realität, nämlich mit den Fluchtbewegungen 2014/2015.

Ein Paragraph und seine Geschichte

Poutrus erzählt nun die bewegte Geschichte des Asylparaphen chronologisch nach. Er beginnt mit den kontroversen Verhandlungen des Parlamentarischen Rates 1949 und den öffentlichen Debatten um die Asylgewährung für politisch Verfolgte, geht auf die Asylverordnung von 1953 ein, beschreibt die Asylgewährung zur Zeit des Kalten Krieges mit besonderem Schwerpunkt der ungarischen (1956) und der tschechisch-slowakischen Flüchtlinge (1968), er geht auf die 70er- und 80er-Jahre ein, wo politisch Verfolgten aus Chile, darunter auch Linksradikalen, Asyl gewährt wurde, und beschreibt dabei das Ringen um Universalisierung der Anerkennungsgründe, schließlich thematisiert er die Asylpraxis zur Ära Kohl. In dieser Zeit wurde die Asylfrage auch zum Kern der Frage, ob die BRD ein Einwanderungsland sei oder nicht.

In seinem Buch geht Patrice G. Poutrus auf wichtige politische Meilensteine wie die Genfer Flüchtlingskonvention ein, war die BRD doch eines der ersten Länder, die die Konvention nach dem 2. Weltkrieg unterzeichnete. Das war umso wichtiger, als bis Anfang der 50er-Jahre noch die Grundsätze der Ausländerpolizeiverordnung (APVO) gültig waren, die aus dem Jahre 1938 stammte und die BRD damit ein Zeichen der Absetzung vom Nationalsozialismus setzen wollte. Und reagiert werden musste im Nachkriegsdeutschland schnell, denn zwischen 19454-1949 gab es umfangreiche Wanderungsbewegungen, 12 Millionen „Volksdeutsche“ kamen zurück, 1,5 Millionen Ostpolen, 10 Millionen Binnenflüchtlinge waren unterwegs in eine neue Heimat, Mitte der 50er-Jahre kamen dann 10.000 Ungarn hinzu, später viele türkischstämmige Gastarbeiter.

Falsche Narrative

Gleichzeitig räumt Poutrus mit dem Mythos auf, dass die 50er- und 60er-Jahre eine Art Goldenes Zeitalter der Asylgewährung in Westeuropa gewesen sei. Denn mit dem neuen Ausländergesetz 1965 wurde erstmals auch das Thema „Missbrauch des Gastrechtes“ ein öffentliches Thema. Es gab ein Stopp des Anwerbeabkommens für Arbeitsmigranten aus den Maghreb-Staaten und bei den Olympischen Spielen 1972 in München wurden Palästinenser generell unter Terrorverdacht gestellt. Poutrus behauptet, dass nicht erst die 70er Jahre das Thema politisch Verfolgter – also einer Zeit, wo Deutschland erstmals selbst mit Terrororganisationen wie der RAF zu tun hatte –, sondern schon seit der Gründung der BRD Fragen nach den politisch-moralischen Grundlagen des Asyls verbunden sind.

Die Recherchen zu dem Buch haben den Berliner Historiker über zehn Jahre begleitet. Ausgangspunkt dafür waren u.a. auch die um die Jahrtausendwende einsetzenden Debatten um die Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland. Von dort ausgehend wurde er gebeten, auch das Forschungsdesiderat für Westdeutschland zu ergänzen. Dabei gibt es Parallelen zwischen ost- und westdeutscher Asylpolitik, die eine traurige Vorgeschichte hat: Sowohl westdeutsche als auch ostdeutsche Flüchtlingspolitik gründete sich nach dem Krieg weiterhin auf ein „völkisches Homogenitäts-Ideal“, das offenbar nie grundlegend infrage gestellt wurde und daher bis heute kursiert. Aber das daraus resultierende Thema Ausländerhass ist nicht nur ein Thema aus Ostdeutschland. Auch in Westdeutschland gab es Übergriffe auf Geflüchtete, etwa in Mölln oder Solingen, in Ostdeutschland dann in Rostock oder Hoyerswerda.

Fremdenhass in Ost und West

In einem gesonderten Kapitel geht Poutrus, der selbst als Migrantenkind in der DDR groß wurde, auf die restriktive Asylpolitik der DDR ein. Er nennt diese Politik „Gesinnungsasyl“. Asyl wurde politisch Verfolgten insofern gewährt, als sie für den sozialistischen Staat nützlich waren und politisch ins Konzept passten. Es gab Vertragsarbeiter aus Angola, Mosambik, Kuba und später Vietnam. Eine Integration in die DDR-Gesellschaft gab es so gut wie nicht, waren die Verträge doch zeitlich begrenzt und mit hohen Auflagen versehen. Ein Einwanderungsland war demzufolge auch die DDR nie.

Die EU-Asylpolitik

Schließlich zeichnet Poutrus noch den Weg nach, der von der Bundestagswahl 1990 zum Asylkompromiss im Juni 1993 führte und der Konsequenzen, die sich aus daraus für Anerkennungsverfahren, Flüchtlingsaufnahme und die europäische Migrationspolitik in den Folgejahren bis zur Gegenwart ergaben. Weitere europäische Regelungen folgten, bei denen sich die BRD zunehmend das Flüchtlingsproblem aus den Augen schafft – und zwar an die EU-Außengrenzen verlagert, etwa mit dem Haager Programm von 2004 oder dem Dublin-Abkommen 2015 und seine Neuauflage 2020. Zwar gab es auch Gegenbewegungen und neue Gesetze wie das aus dem Jahre 2018 stammende Fachkräfteeinwanderungsgesetz bzw. das Gesetz über die Duldung bei Ausbildung, aber letztlich sind die von der EU-Kommission unterbreiteten Asyl- und Migrationspolitik weiterhin bloß ein Outsourcen der Problematik an die Außengrenzen der EU und ein Verschieben der Verantwortlichkeit für Schicksale einzelner Menschen an andere Länder.

Abschied vom Erfolgsnarrativ

Das Buch liefert, ganz klar, einen Beitrag zur deutschen Geschichtswissenschaft abseits der gepflegten Aufstiegs- und Erfolgsnarrative, die sonst oft bemüht werden. Die generelle Selbstverständigungsdebatte der deutschen Gesellschaft im Umgang mit dem Fremden ist dabei nach wie vor hochaktuell und handlungsbedürftig. Fasst man nun die Folgen der Grundgesetzänderung zusammen, die auch vor dem Hintergrund des Jugoslawienkrieges getroffen wurde, wo viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, so wird deutlich, dass es vor allem die sogenannte Drittstaatenregelung ist, wonach es „sichere Herkunftsstaaten“ gibt, die bis heute immer wieder Grund von Debatten von und Protesten gegen Asyl- und Abschiebepolitik sind. Eine inzwischen notwendige globale Perspektive bietet das Buch dabei leider nicht.

Patrice G. Poutrus: Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart
Ch. Links Verlag, Berlin 2019
250 Seiten

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