Pflaster für ostdeutsche Seele

Steffen Maus Studie „Lütten Klein“ über die gleichnamige Rostocker Plattenbausiedlung ist zu recht ein Bestseller

Wenn Steffen Mau über die Neubauplatte schreibt, in der er großgeworden ist, dann schwingt da auch etwas Nostalgie oder Ostalgie mit. Doch erzählt werden da nicht persönliche Geschichten – höchstens mal am Rande. Vielmehr geht es dem Soziologen um das Sichtbarmachen von Strukturbrüchen, er nennt sie „gesellschaftliche Frakturen“. Denn für ihn bedarf es auch 30 Jahre nach der Wende eines Blickes auf diese Transformation der einen in eine andere Gesellschaftsordnung, weil der einseitige Blick auf ökonomische Kennziffern nicht ausreichen, um die Ostdeutschen zu verstehen. Stattdessen will Mau die mentale und politische Lage der Ostdeutschen von damals bis heute endlich mal ernst nehmen. Und Lütten Klein ist dafür ein ausgezeichneter Ort.

Stadtteil Lütten Klein in Rostock

Lütten Klein ist ein Stadtteil von Rostock. Er liegt auf halbem Weg zwischen dem Rostocker Stadtzentrum und dem Fischer- und Touristenort Warnemünde. Der Stadtteil wurde zwischen Mitte der 60er- und Mitte der 70er-Jahre als Teil des Wohnungsbauprogramms der DDR im Plattenbaustil hochgezogen. Mehr als 10.000 Wohnungen entstanden hier in diesem Jahrzehnt. In Rostock stiegt dann die Einwohnerzahl von unter 70.000 auf über 250.000 im Jahr 1989, womit Rostock zu den zehn größten Städten der DDR zählte. Im 2. Weltkrieg zu weiten Teilen zerstört, wurde Rostock für die DDR das Tor zur Welt. Über seine Häfen lief ein Großteil des Außenhandels, hier gab es Schiffbau, Dieselmotoren und Fischkonserven. Stolz war man auch auf eine der ältesten Universitäten Deutschlands.

Lütten Klein war damals ein Teil eines ganzen Ensembles neuer Stadtgebiete im Rostocker Nordwesten. Im August 1992 erlangte sein Nachbarstadtteil Lichtenhagen traurige Berühmtheit: Bürger setzten ein Asylbewerberheim in Brand und brüllten Naziparolen. Im Unterschied zu Westdeutschland, wo schon seit einiger Zeit Plattenbausiedlungen zum Brennpunkt für soziale Probleme wurde, waren die Siedlungen im Osten früher sehr begehrt. Vom Professor über den Ingenieur bis zum Arbeiter wohnte man hier. Ein Viertel der Bevölkerung der DDR wohnte in den 80er Jahren in Plattenbauten, in Rostock waren es sogar 70 Prozent.

Fragebögen als Forschungsbasis

Steffen Mau, der inzwischen Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität in Berlin ist, forscht unter anderem zu sozialer Ungerechtigkeit, Transnationalisierung, europäische Integration und Migration. Seiner Studie zu Lütten Klein sind viele umfangreiche narrative Interviews vorausgegangen mit ehemaligen und heutigen Bewohnern des Stadtviertels. Hunderte Fragebögen wurden vorab ausgewertet. Dabei geht er der Frage nach, warum sich die Ostdeutschen auch nach 30 Jahren deutsche Einheit nicht gesehen und unverstanden fühlen.

Mau ist nun einer, der dies nicht als Randnotiz im großen geschichtlichen Ereignis betrachtet, sondern bringt die Menschen zum Sprechen und gibt ihnen eine Stimme. Schon das rechtfertigt dem Buch seinen Platz auf der Spiegel-Bestsellerliste. Ostdeutschland stellt für Mau einen Verdichtungsraum dar für Phänomene, die auch andernorts zu beobachten sind. Er behauptet daher, dass sich trotz aller Transformationserfolge, trotz Angleichung und kultureller, normativer und mentaler Eingewöhnung die Unterschiede von Ost und West nicht einfach ausgeschlichen werden können. Das Gefühl des Zu-kurz-gekommen-Seins, der Entwertung von Lebensmodellen, der kulturellen Irritation und der ökonomischen Prekarisierung führt nämlich – wie man derzeit überall erleben kann – zu einer unglücklichen Pionierrolle beim Aufstand der Unzufriedenen und Frustrierten.

Geschlossene Gesellschaft

Das Leben in der DDR wird dabei nicht nur die rosarote Brille betrachtet. Der Soziologe Mau hat vielmehr einen scharfen Blick für die Brüchigkeit und Fragilität der Arbeits- und Lebensweise im „Arbeiter- und Bauernstaat“. Das Leben in der DDR war um die Arbeit zentriert. Zwar gab es keine Arbeitslosen, aber verstopfte Karrierekanäle. Es gab wenig ethnische oder politische Konflikte, aber auch spätestens in den 80er-Jahren eine politische Erstarrung und Verkrustung der Strukturen. Es gab eine starke Homogenisierung der Gesellschaft, die sich auch darin zeigte, dass in den Plattenbauten in Lütten Klein, Professoren neben Abteilungsleitern, Kassiererinnen oder Ärzten wohnten. Die Obrigen haben sich schwergetan mit Entgrenzung und Diversifizierung in der Gesellschaft. Emanzipation gab es für Mau nur von „oben“.

Die DDR war ein Land der kleinen Leute. Es gab kaum Lebensstilkonflikte, da es eine relativ homogene Besoldung gab und es wenig Statussymbole und Luxusgüter gab. Diese Provinzialisierung der DDR lag nach Mau vor allem auch daran, dass es eine stillschweigende Allianz von Herrschenden und Staatsvolk gab, bei dem beide Seiten profitierten. Es gab sozusagen ein stummes Arrangement mit der Macht, ein implizites Stillhalteabkommen, wenngleich das nicht für alle galt: Schließlich wanderten bis zum Mauerbau drei Millionen Menschen aus dem kleinen Land mit 17 Millionen Menschen ab. Bis 1988 waren es noch einmal etwa 600.000 Menschen.

Revolution oder Zusammenbruch?

Über 40 Jahre hatte man sich an die Existenz der DDR gewöhnt. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ging es den Menschen materiell besser. Der relativ plötzlicher Zusammenbruch der DDR erschien daher unvorstellbar, trotz des aus Moskau heranziehenden Tauwetters und dem langsamen Zerbröseln der Autorität von Partei- und Staatsführung. Die Implosion des Systems war ein kollektiver Schock. Der implizite Sozialvertrag zerfiel, weil die Führung nicht länger Konsumgüter gegen politische Loyalität tauschen konnte, behauptet Mau. Stattdessen forderten immer mehr Bürger Meinungs- und Menschenrechte. Es bildeten sich Oppositionsgruppen im Kirchenrahmen, später auch in den Betrieben, privat, an der Uni oder bei der Armee.

Der Zustand einer über Wochen und Monate anhaltenden kollektiven Erregung ist heute kaum mehr vorstellbar, ist aber vielen ehemaligen DDR-Bürgern noch gegenwärtig. Euphorie wechselte mit Angst. Das Umschlagen subjektiver Ohnmacht in kollektive Handlungsmacht hatte etwas Berauschendes. Allerdings dauerte es nur wenige Monate, bis die politischen Verriegelungen wieder einrasteten und von richtungsoffen auf zielgerichtet schalteten. Die Initialerfahrung demokratischer Teilhabe war eine des Straßenprotestes, mit dem man sich Gehör verschaffte und keine der zivilgesellschaftlichen Beteiligung.

Blaupause West

Ab Mitte 1990 kamen die Hauptredner auf den wirtschaftlichen, politischen und intellektuellen Marktplätzen aus Westdeutschland. Sie machten sich für ihre Kandidaten vor Ort stark, die zu reinen Platzhaltern degradiert wurden. Die letzte Wahl zur Volkskammer beschreibt der Soziologe als einen besonders eklatanten Fall von Einmischung in die Wahlen eines dem Untergang geweihten, aber souveränen Staates. Der Wettstreit um das Erbe der DDR wurde ohne Rücksicht auf Verluste und mit harten Bandagen ausgefochten. Die Zustimmung zu einem schnellen Beitritt war nun das Siegel auf einen Prozess der kollektiven Unterordnung unter die Spielregeln der Bonner Politik. Die von der leider kraftlos gebliebenen Bürgerrechtsbewegung eingebrachte Aufarbeitung der Stasiakten wurden dann zu einer Mitgift, die ausgerechnet die Wahrnehmung der DDR als Unrechtsstaat fütterte und „ostalgische Gefühle“ diskreditierte.

„Der Verlust an sprachfähigen Akteuren, die Desavouierung der alten Eliten, die Handlungsschwäche er neuen politischen Köpfe, der Mangel an finanziellen und organisatorischen Ressourcen, der Professionalisierungsvorsprung westdeutscher Politikakteure, der rapide anschwellende Massenauszug – all das hat dazu beigetragen, dass die Bundesrepublik die Bedingungen der Abwicklung der DDR wie ein Insolvenzverwalter diktieren konnte“, schreibt Mau. Die wirtschaftliche und politische Insolvenz der DDR führte dann zu einer erdrutschartigen Abwanderung, weswegen die Treuhand möglichst schnell handeln sollte, damit der Westen nicht mit Ostdeutschen überschwemmt werde und dort der Wohlstand geteilt werden müsse.

Besserwessis und Jammerossis

Mit der Wiedervereinigung hat sich die DDR selbst ausradiert und sich den Rückgang in die Vergangenheit versperrt. Sicher will sie keiner mehr wiederhaben. Aber das Inkorporationsmodell gesellschaftlicher Transformation, der DDR in die BRD, hatte auch seine Kosten. Im Westen erzeugte der Beitrittswunsch der Mehrheit der Ostdeutschen ein Gefühl der Überlegenheit und Unverwundbarkeit und der Zusammenbruch der DDR wurde als Beleg für Stärke des westdeutschen Modells bruchlos in die eigene Erfolgsgeschichte eingegliedert. Eine Liste der Errungenschaften der DDR wurde nie verfertigt. Stattdessen fühlt sich die ostdeutsche Teilgesellschaft zunehmend untergebuttert und fremdbestimmt. Die Ostdeutschen schimpfen über die ursupatorischen „Besserwessis“ und die Westdeutschen über die umstellungsträgen „Jammerossis“.

Die Wiedervereinigung ist für Mau daher ein Beispiel für die „Unternutzung“ des demokratischen Potenzials der friedlichen Protestbewegung und für eine „Übernutzung“ des nationalen Potentials politischer Mobilisierung. Durch die Mobilitätsbewegung in den 90er-Jahren kam es zu einer gleichzeitigen „Überschichtung der DDR“ mit einer „westdeutschen Elite“ und zu einer „Unterschichtung der BRD“ mit ostdeutschen Bürgern, die nicht selten auch hohe Qualifikationen besaßen. Der Osten wurde – auch wegen der Treuhand – zu einer Pionierregion neoliberaler Deregulierung und einem Spielplatz für Hasardeure.

Land der Abgehängten und Verlierer

Die größten Kränkungen für die DDR-Bürger nach der Wende waren die enorme Arbeitslosigkeit, Selbstwerteinbußen, die Abwanderung von Familienmitgliedern und Bekannten und die Entwertung von Lebensleistungen. In den Plattenbauten von Lütten Klein und anderswo blieben oft weniger flexible oder heimatverbundene Männer zurück. Plötzlich rutschte man gesellschaftlich ins Prekariat ab. Man wurde zu einer Art „überschüssiger Bevölkerung“, die auf staatliche Unterstützung angewiesen ist. Manche fielen ganz durchs Netz. Auch Steffen Mau traf in seinen Feldexperimenten Bekannte, Nachbarn und ehemalige Mitschüler, von denen einige heftig strauchelten. Die demographische Maskulinisierung der Gesellschaft trug zu allem Überfluss auch noch zu einer höheren Gewaltbereitschaft bei.

Es entstand eine Population Marginalisierter mit gebrochenen Biographien, mit Krankheit, Insolvenz und Präkarisierung, aber auch Leute, die sich wieder aufrappelten. Es gab ein paar Gewinner, denen es finanziell besser ging und die sich rund um Rostock ihre Häuser bauten und damit allerdings die soziale Sortierung und den Abstand zu den Bewohnern in Lütten Klein noch größer machten. Die Individualisierung ging in Ostdeutschland deshalb auch mit sozialer Separierung einher: Freundeskreise zerrissen, Familienband lockerten sich, Bildungskarrieren entwickelten sich auseinander.

Lütten Klein heute

Aus der metaphysischer Obdachlosigkeit entstand auch in Lütten Klein Resignation und Einsamkeit, denn positive Bezugnahmen auf die Ostvergangenheit wurden erst einmal aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Wer das solidarische Zusammenleben im Realsozialismus pries, musste sich entgegenhalten lassen, er unterschlage die repressiven Aspekte des Regimes; die ostdeutsche Skepsis gegenüber Ungleichheit galt als postsozialistische Gleichmacherei; die Kindergartenkultur als Ausdruck einer kalten Bildungsdiktatur. Stattdessen hieß es: Mauer, Flucht, Teilung, Diktatur. Das empfanden und empfinden aber viele Ostdeutsche als eine Verzerrung der historischen Realität. Insofern muss Westdeutschland seine Beziehung zu Ostdeutschland erst noch aufarbeiten.

Das muss schon allein deshalb sein, damit die Bilder von der brennenden Asylunterkunft in Rostock Lichtenhagen 1992, dem Nachbarviertel von Lütten Klein, nicht das einzige bleibt, was man von Ostdeutschland im Gedächtnis behält. Denn Rostock hat sich – wie viele andere Städte – seitdem wieder stark verändert: Die Häuser wurden saniert, es gibt neue Einkaufszentren, ein soziales Leben, neue Verkehrsanbindungen usw. In den Plattenbauten wohnen heute vier Milieus mehr oder weniger friedlich nebeneinander: etablierte und lang ansässige Ältere, sozial Benachteiligte, ostdeutsche Durchschnittshaushalte und Migranten. Damit ist Lütten Klein typisch für ostdeutsche Transformationsprozesse. Die gesellschaftlichen Brüche, so Mau am Schluss seines Buches, lassen sich jedoch nicht ohne weiteres wieder heilen, denn sie betreffen nicht allein die ostdeutsche Seele, sondern die Gesellschaft als Ganzes.

Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft

Suhrkamp Verlag, Berlin 2019

286 Seiten

Leseprobe als PDF bei suhrkamp.de

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