Leuchtend, von außen und innen

Nino Haratischwili blickt in „Das mangelnde Licht“ mit viel Empathie auf vier Frauenfiguren

Die deutsch-georgische Schriftstellerin Nino Haratischwili wurde am 8. Juni 1983 in der Sowjetrepublik Georgien geboren. In der Zeit von 1995 bis 1997 floh ihre Mutter mit ihr vor dem Bürgerkrieg. Zwei Jahre später, mit 14 Jahren, ging sie allein nach Georgien zurück und besuchte eine Schule mit erweitertem Deutschunterricht. Nach einem Studium der Filmregie in Tiflis studierte sie von 2003 bis 2007 Theaterregie an der Theaterakademie Hamburg.

Nach ihrer so umfangreichen wie erfolgreichen Arbeit auf der Bühne u.a. in Göttingen und Hamburg debütierte sie mit dem Roman Juja (2010), veröffentlichte 2011 Ein sanfter Zwilling, und 2014 erschien ihr zweiter Roman Das achte Leben (Für Brilka). 2018 gelangte sie mit ihrem Roman Die Katze und der General auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Schauplatz Georgien

Es leuchtet, dieses Buch aus der Frankfurter Verlagsanstalt, wie ich noch keins habe leuchten sehen. Vom Verlag in einem Schutzumschlag präsentiert, der hinten nicht wie üblich eingesteckt ist, sondern das Buch umhüllt. Beim Aufblättern sehe ich die Außenseite des Hauses aus Loggien, Fenstern, Treppen, Eingängen, umgeben von Wäscheleinen, Bügeleisen, Auto, Klavier, Kalaschnikow und einem schaukelnden Affen. Meine naive Freude ließ mich zunächst an südliche Gefilde denken, doch dann bemerkte ich am Panzer, dass ich doch nicht in Italien gelandet war, ich befand mich im Tbilissi des Jahres 1987.

Der Roman beginnt mit einer Mutprobe des illegalen Betretens, wie auf dem Titelblatt zu sehen, springen vier Schülerinnen durch einen Wasserfall. Es sind die eigenwillige Anstifterin Dina mit ihrer Leica-Kamera, die Klassenbeste Ira, die niedliche und später für die Liebe glühende Nene und die uns als Erzählerin bald vertrauter werdende Keto.

Die Kaufmannshäuser, vor hundert Jahren für betuchtes Bürgertum gebaut, wirken im Roman genauso wie auf dem Schutzumschlag, sie werden die „Italienischen Höfe“ genannt, was diesen Eindruck noch verstärkt, sind über Laubengänge und Wendeltreppen erreichbare Wohnungen. Bis in die Keller ist alles vermietet, jeder hat von jedem und jeder Kenntnis und Beziehung. Alles durch Anteilname des Klatsches variiert, menschliche Nähe aber auch durch den Austausch von Dienstleist2ungen und Gefälligkeiten.

Unverbesserlicher Stalinist

Onkel Giwi wird vor allem von den älteren Damen vergöttert, er habe so aristokratische Züge, gilt als Kriegsheld und leider auch als unverbesserlicher Stalinist. Außerdem ist er musikalisch und kümmert sich um die musische Bildung der Kinder, erkennt in Ketos Gekritzel auf einer Serviette ihr Zeichentalent, und später sieht das Mädchen erstaunt, dass neben dem Bild des von ihm hochverehrten Generalissimus ihr gezeichnetes Porträt des Onkel Giwi an die Wand gezwickt ist.

Das mangelnde Licht ist der Roman einer Frau, die u.a. vier Mädchen und deren Frauwerdung bis zur Adoleszenz zeigt und darüber hinaus. Aber es ist eben nicht nur ein Frauenroman. Gerade deshalb verweise ich auf das Beispiel des sonderlichen, zuweilen durch altmodische Ausdrücke auffallenden Onkel Giwi. „Würde er nur sehen, welchen Abgrund das ganze hinunterrollt. Seine eiserne Hand und alles wäre wieder im Lot“, so lobpreist er den Massenmörder Stalin, wenn ihn Meldungen aus dem Radio erzürnen. Giwi stellt eine Nebenfigur des Romans dar, aber am Beispiel seiner Person wird deutlich, wie mit liebevoller Empathie er und sein ambivalenter Charakter gezeichnet wird. Die Autorin wechselt niemals in das Amt des Richters, durch ihre Augen blicken wir präzise und gleichzeitig gütig. Wir lesen einen Roman über starke Frauen, der uns dennoch propagandistische Ungerechtigkeiten der Frauenbewegung erspart.

Gravierendere Zeitgenossen begegnen wir in der Dynamik des Romans; Neles Familie ist involviert in die berüchtigte Mafia „Diebe im Gesetz“, die versuchen, nicht weniger als die erste Liebe des Mädchens zu unterbinden und verheiraten sie aus mafiösen Gründen mit einem Greis. Aber auch Rati, der Bruder Ketos, der Freund Dinas, der seine Liebe zum Flötenspiel geheim hält, hat eine Kalaschnikow unter dem Bett und träumt von einer eigenen Bande. Gewalt ist vor allem während der gesellschaftlichen Umbrüche immer präsent.

Am Start erkennt man den Gewinner

Es war einmal in Amerika – ein Film, der viele junge Männer darin bestärkt haben mag, es mit dem harten Geschäft auf der Straße zu versuchen, hat die trügerische Phantasie vom schnellen Glück verkündet, faszinierte die georgische Jugend im Umbruch ihrer Gesellschaft genau wie unsere während der Auflösung der DDR. Die Kehrseite von den vergeudeten Jahren im Knast und Schlimmeres geht irgendwie in Glamour und Action unter. Auch für Georgien verkündete Noodles seine fragwürdige Sequenz: Am Start erkennt man den Gewinner!

Erst in Brüssel 2019 sollen sich Keto, Nene und Ira wieder begegnen. Sie fremdeln anfangs mit der eigenen Vergangenheit, scheuen vor der Offenbarung ihrer frühen Jahre auf Dinas Fotos – die Künstlerin und Freundin kann nicht mehr dabei sein. Nach all den bewegten Jahren, Schmerz und freudvoller Erinnerung ist manches wie „Die Liebenden von Tbilissi“ zur Erinnerung konserviert, vor allem aber: Sie können noch miteinander, sind trotz allen zeitlichen wie mentalen Veränderungen Freundinnen geblieben.

Einladung zum Assoziieren

Die Lektüre lädt zu freien Assoziationen ein, es dürfte wohl keine Untreue sein, wenn Sie von Zeit zu Zeit das Buch sinken ließen und träumerisch Gelesenes mit eigenen Erinnerungen vermischen, das mag jede und jeder nach seinem Pläsier halten. Auch ein Wiederkäuen, wie Nietzsche ein mehrmaliges Lesen nannte, erscheint denkbar.

Der Roman lässt sich entspannt und flüssig lesen, es braucht weniger Aufwand an Lese- und Lebensenergie als es der Umfang von 826 Seiten vermuten ließe. Das mangelnde Licht empfehle ich mit Verneigung vor der schöpferischen und sprachlichen Leistung der Schriftstellerin Nino Haratischwili. Ein bezauberndes Buch!

Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht

Frankfurter Verlagsanstalt 2022

826 Seiten

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