Kommentar zur Gegenwart

Büchersonntag, Folge 16: In seinem Epochengemälde erfüllt Florian Illies die 1930er-Jahre nicht nur mit Leben, sondern beschreibt die Sehnsucht nach menschlicher Nähe, während draußen die Humanität brutal zunichte gemacht wird.

Die Goldenen Zwanziger mit ihrer enormen Emanzipation von Althergebrachtem, dem Grauen des Ersten Weltkrieges im Nacken, der politischen Spannungen und dem exzentrischen Kunstleben – sie erfahren in den 30er-Jahren einen radikalen Schlag ins Gesicht. Als ob man für den wilden und ausufernden Lebenswandel nun die Rechnung zu bezahlen hätte. Als ob sich das Beste des menschlichen Antlitzes sich in sein fratzenhaftes Gegenteil verkehrte. Es ist eine Zeit des politischen Umbruchs, der alles Gute mit in seinen Abgrund reißt: jeden Anstand, jede Solidarität, jede Liebe. In Italien Mussolini, in Spanien Franco, in Deutschland Hitler, die Luft wird dünner. Man emigriert, man wird ausgebürgert, man flieht.

In dieser Zeit essen Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre in Berlin Käsekuchen, durchleben Henry Miller und Anaïs Nin wilde Nächte in Paris und erlebt Marlene Dietrich in Hollywood ihren Durchbruch. Bertolt Brecht und Helene Weigel, die Familie Mann, Hannah Arendt, Kurt Tucholsky und tausende andere fliehen ins Exil und in neue absurde Amouren und Konstellationen: An der Cote d’Azur rasen F. Scott und Zelda Fitzgerald in den Abgrund ihrer Ehe, Walter Benjamin sucht auf Ibiza nach Liebe und findet nur Haschisch, Kurt Weil finanziert mit den Tantiemen der „Dreigroschenoper“ seiner Gattin Lotte Lenya und ihrem Liebhaber die Casinorunden in Monte Carlo. Erich Kästner erzählt seiner Mama von den neuesten Flirts in Berlins „Romanischem Café“ – um nur einige von den vielen Paaren, die Illies stellvertretend auftreten lässt, zu nennen.

Maximale Libertinage trifft auf politische Katastrophe?

Doch nicht nur draußen herrscht Chaos. Auch in den Herzen tanzt man auf dem Vulkan: Picasso malt noch seine Frau Olga und liebt schon Marie-Thérèse. Heinrich Mann will raus aus der Ehe mit Mimi, hat eine Affäre mit Trude Hesterberg und landet dann im Exil mit der Haushälterin Nelly Kröger. Walter Benjamin lässt sich nach langem Rosenkrieg von seiner Frau Dora scheiden, um Asja Lācis zu heiraten, die die es aber nicht so ernst gemeint hat und schon wieder weg ist. Das kommt dem melancholischen Benjamin zu pass, denn ähnlich wie für Rilke ist auch für ihn die Abwesenheit der Geliebten eigentlich viel erotischer als ihre Anwesenheit. Die geheimnisvolle Gala heiratet erst Paul Éluard, verlässt ihn aber für Salvador Dalí, und Tilly Wedekind verliebt sich in Gottfried Benn, während ihre Tochter Pamela, auch schon mal verlobt mit Klaus Mann, gerade Carl Sternheim heiratet. Am Rande geht es auch um das Verlassen kleinbürgerlicher Kategorien und das Ausloten des Begehrens: Es geht um die emanzipierte Liebe der „neuen Frau“ in Berlin, die Erich Kästner ratlos macht und ihn den Roman „Fabian“ schreiben lässt, es geht um homosexuelle Liebe bei Klaus Mann oder Christopher Isherwood, es geht um sadomasochistische Liebe zwischen dem Maler Rudolf Schlichter und Speedy oder die tödliche des Ehepaars Fitzgerald.

Eine einzige Ansammlung von Affären und Bettgeschichten, als wären Hingabe und Liebe vorläufig die einzig möglichen Antworten auf den von den Nationalsozialisten geschürten Hass. In Berlin, Paris, im Tessin und an der Riviera stemmen sich die großen Helden der Zeit gegen den drohenden Untergang. Unvermittelt stehen bei Illies Schlaglichter nebeneinander, durch Sternchen getrennt. So springt man vom ersten Date zwischen Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir in Paris zu dem von Sophie Scholl und Fritz Hartnagel. Dazwischen fällt man mit Picasso, Brecht und Benn zwischen viele unglückliche Frauen, mit Zelda und Scott Fitzgerald in eine Ehekrise und in die Ménage-à-trois auf Ibiza zwischen dem Dadaisten Raoul Hausmann, seiner Ehefrau Hedwig Mankiewitz und seiner Muse Vera Broido. – Die 30er Jahre, die Illies in seinem Buch beschreibt, sind von den kühnsten, schönsten, aussichtslosesten Affären und größten Romanzen geprägt, die das Leben kennt.

Reminiszenzen

Nun mag der Titel von Illies‘ neuem Buch an den des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez‘ „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ aus dem Jahre 1985 erinnern. Es gibt viele Gemeinsamkeiten der beiden Bücher: die Zeit, in der die Figuren agieren, unglückliche Konstellationen für die Liebe und Krieg. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass am Ende kein romantisch-märchenhaftes Alles-wird-gut-Orchester spielt. Illies Buch bleibt bei der Realität. Seine Figuren sind real, haben gelebt und sind gestorben, teilweise in den KZs der Nazis. Sein dokumentarisches Aneinanderreihen von Verliebungs- und Entliebungsgeschichten kann nicht romantisch enden. Es ist chronologisch geordnet und bleibt zerstückelt. So bleibt die Form der Zerrissenheit dem inhaltlichen Gegenstand adäquat. Der Leser muss selbst Ordnung schaffen in diesem Chaos der Gefühle, muss selbst sortieren zwischen Verständnis und Verwunderung.

Das Anklingen an Márquez‘ Roman macht aber ebenso deutlich, dass die als singuläre anmutende Erscheinung höchster Nähe in Zeiten größter humanitärer Selbstentfernung und Selbstentfremdung im heraufziehenden Faschismus so einzigartig dann doch nicht ist. So rückt in Bezug auf die gegenwärtigen Weltereignisse dem Leser einiges unangenehm auf die Haut: politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche Krisen auf der einen Seite, Lebenshunger und Untergangssehnsucht auf der anderen. Die Geschichte – aus der man im besten Fall etwas lernen kann, im schlechtesten Fall sie wiederholt – fühlt sich gefährlich nah an. Tägliche Demonstrationen an verschiedenen Brennpunkten der Welt, Radikalisierung und Repression als deren explosive Folgen sind dafür Hinweis genug.

Der Autor

Illies ist Jahrgang 1971. Er studierte Kunstgeschichte in Bonn und Oxford. Er war Feuilletonchef der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und der „Zeit“. Darüber hinaus war er Verleger des Rowohlt Verlages, leitete das Auktionshaus Grisebach und war Mitgründer der Kunstzeitschrift „Monopol“. Heute lebt Illies in Berlin als freier Schriftsteller und ist er Mitherausgeber der „Zeit“.

Nach seinem Erfolgsbuch „1913“ ging es Illies in „Liebe in Zeiten des Hasses“ um ein besonderes Phänomen: Man könnte es das Kälte-Narrativ nennen. Denn für Illies ist es nach dem Ersten Weltkrieg vor allem darum gegangen, sich zu panzern und Gefühle zu unterdrücken. Von „Kältekult“ ist die Rede, belegt mit Ernst Jüngers Wunsch nach einer „Literatur unter null“, von Brechts Lob der Kälte und dem von George Grosz geforderten „Packeis-Charakter“. Der Blick des Fotografen August Sander ist „kalt“, das Schaffen Leni Riefenstahls ebenso „eiskalt“ wie der Martini in der Hand von Marlene Dietrich. Auch Erich Kästner wird „immer kälter“, Céline ist „das kälteste Herz“ der französischen Literatur, und wenn Claus Graf Schenk von Stauffenberg, Jahre bevor er zum Widerständler wird, aus dem von Deutschland überfallenen Polen an seine Frau schreibt, dann tut auch er das „eiskalt“. Aber die Exponierung von Kälte ist bei Illies zugleich ihre Anklage.

Erzählende Geschichtsschreibung

Auch wenn manchem die Art, in der Illies erzählt, zu „fremd“ oder „kitschig“ ist, so bleibt es doch keine bloße Aneinanderreihung von Schicksalen. Der Autor nutzt mit seinen Büchern vielmehr ein neues Genre der erzählenden Geschichtsschreibung. Immer wieder zieht er verblüffende Querverbindungen und verknüpft elegant Szenen und Momentaufnahmen zu mitreißenden Panoramen der Zeitgeschichte. Das Jahrzehnt von 1929 bis 1939 in Vignetten zu beschreiben, die alle um Liebe kreisen oder das, was angesichts der Neuen Sachlichkeit davon übrig geblieben sein soll, ermöglicht Florian Illies einen kurzweiligen und doch elementaren Zugriff auf die Kulturgeschichte. Diesem Urteil von Elke Heidenreich kann ich mich nur anschließen. Ebenso deren Hochachtung vor der umfangreichen Recherche, die Illies geleistet haben muss.

Der Beginn mit dem Jahr 1929 und eine prominente Rolle für Alfred Döblin lassen darauf schließen, dass die Form des Buches von Döblin und seinem um 1929 spielenden Roman „Berlin Alexanderplatz“ inspiriert sein könnte, nämlich durch das Verfahren der Montage. Inhaltlich jedoch haben die vielen Liebesgeschichten eher mit Verzweiflung und Begehren als mit Liebe zu tun. Oft ist der Ehering nur ein Rettungsring, werden die Protagonisten – etwa Sartre und de Beauvoir mit ihrem Pakt der freien Liebe – heimlich von Eifersucht zerfressen. Letztlich wird ein bisschen viel geliebt ohne wirkliche Liebe, wie Lisa Matthias einer Freundin gegenüber im Buch bekennt.

Florian Illies fängt genau dieses Gefühl der Verlorenheit ein. Sein Epochengemälde ist schön und hässlich zugleich. Es ist eine mitnehmende Reise in die Vergangenheit, die sich wie ein Kommentar zu unserer verunsicherten Gegenwart liest. Wie Illies die kühle Fassade, unter der es tobt, sachlich und mit leichter Hand beschreibt, wie er alles mit zuweilen amüsiertem Blick, nie wertend beobachtet und arrangiert, lässt den Leser zuweilen schlucken und innehalten. Und genau dann ahnt man die Sehnsucht nach Normalität in Zeiten der Katastrophe, nach Bleiben in Zeiten der Flucht, nach Helligkeit in Zeiten des Dunklerwerdens und nach Liebe in Zeiten des Hasses.

Florian Illies: Liebe in Zeiten des Hasses

S. Fischer Verlage

432 Seiten

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