Büchersonntag, Folge 21: Toon Horsten beschreibt in seinem Roman „Der Pater und der Philosoph“, wie ein Franziskanermönch auf abenteuerliche Weise das Vermächtnis Edmund Husserls einlöste
Ein Foto, das Erinnerungen weckt. Es stammt aus den 60er Jahren. Darauf zu sehen: Pater Herman Leo Van Breda und Theresia Van Breda. Es ist im großelterlichen Garten des Autors aufgenommen worden. Die Großmutter Theresa lächelt den rauchenden Pater schelmisch an. Und dieser ist sichtlich amüsiert. Der Vater erzählt dem Autor, dass es sich um den Lieblingscousin der Großmutter gehandelt habe, der auf allen Familienfesten dabei war. Er holt eine Ansichtskarte aus einem Karton und liest die vielen Auszeichnungen vor, die dieser Pater namens Herman Leo Van Breda im Laufe seines Lebens bekommen hatte: aus der BRD, den Niederlanden, Belgien und Israel, eine Ehrendoktorwürde und einen Orden als Widerstandskämpfer im Zeiten Weltkrieg. So beginnt Toon Horstens abenteuerliche Geschichte eines heldenhaften Mönches, der den Nachlass des berühmten Philosophen Edmund Husserl vor den Nazis rettete.
Warum Husserl und nicht Nietzsche?
Der Publizist Horsten verstrickt sich immer mehr in die Geschichte und beginnt schließlich, das gesammelte Material zu einem Buch zusammenzufassen. Dieses beginnt er mit einem starken Kontrast: Edmund Husserl contra Friedrich Nietzsche. Beide stehen am Ende des 19. Jahrhunderts im Fokus der Öffentlichkeit, einem Jahrhundert, in dem sich das Denken die Sprache der exakten Mathematik und Naturwissenschaften zu eigen machen will. Die Philosophie muss sich auch gegen die aufkommende Psychologie neu definieren und sucht ihren neuen Platz in einer sich immer schneller verändernden Welt. Das muss sie auch, denn mit dem Schwinden eines eigenen Forschungs- und Wirkungsfeldes ist sie zwar noch die Königin der Wissenschaften, aber kurz vor der Entthronung.
Nietzsches Denken kommt für Horsten dabei einer Splitterbombe gleich, einer Mixtur aus Philosophie, Rhetorik und literarischem Talent. Sie zielt auf Krawall und Wirkung. Denn Nietzsche ist die Stichflamme, die der zweitausend Jahre langen Unterscheidung zwischen Körper und Geist ein Ende setzt und Gott für tot erklärt. Nietzsche will die Umkehrung aller Werte, die geistige Revolution, die aufräumt mit dem Muff der Talare, mit Religion und Aberglauben. Sie will die ewige Wiederkehr des Gleichen aufbrechen. Für ihn rückt das einzelne Individuum mit seiner subjektiven Weltanschauung ins Zentrum des Denkens.
Husserl hingegen will die Phänomene retten, und damit die Philosophie. Er versucht, die Grundlagen der Philosophie strenger als alle Wissenschaft zu legen. Mathematik ist für ihn dabei der Maßstab einer jeden logisch aufgebauten Theorie. Philosophie soll allgemeine und absolute Gültigkeit bekommen und den Naturwissenschaften nicht nachstehen. Dies geht nicht anders als Brückenschlag zwischen Geist und Welt. Für dieses grandiose Projekt gewinnt er zahlreiche Mitstreiter: Schüler, Nachfolger, Interessierte, und baut eine eigene Schule auf. Er beeinflusste Denker wie Derrida, Ingarden, Stein, Sartre und Heidegger. Und auch heute kommt kein ernsthafter Philosoph um Husserl herum.
Der Jude Husserl
Das erste Kapitel des Buches von Horsten beginnt mit drei Juden, die noch gemeinsam trinken und die politische Lage diskutieren, ob es Krieg gibt, was das für Juden bedeutet, was Hitler will. Doch schneller als gedacht, am 15. September 1935, werden die Nürnberger Rassengesetze für das gesamte Deutsche Reich erlassen. Die Diskriminierung von Deutschen jüdischer Abstammung wird mit den neuen Gesetzen offiziell. Husserl begreift sofort, dass es von nun an nicht mehr allein um den philosophischen Nachlass geht, sondern auch um sein eigenes Leben und das seiner Frau. Er will mit Frau, den Manuskripten und seiner Bibliothek nach Prag. Doch der Plan scheitert. Schließlich stirbt Husserl 79-jährig, und Malvine ist noch immer in Deutschland.
In diesen Jahren will der philosophile Van Breda seine Dissertation über Husserl schreiben und besucht im Sommer 1938 die Witwe in Freiburg im Breisgau. Hier erkennt er die historische Bedeutung des Husserl-Nachlasses und dessen Gefährdung durch die Nazis. Husserls Witwe Malvine droht inzwischen die Deportation. Damit ist auch der Nachlass in Gefahr, in dem Husserl sein Hauptwerk sah und das er für spätere Generationen aufbereiten wollte.
Eine abenteuerliche Manuskript-Reise
Vier Monate nach dem Tod Husserls sitzt Pater mit der Witwe und Eugen Fink im Wohnzimmer und beratschlagt die Erhaltung und Konservierung der Husserlschen Manuskripte. Da er von der Bedeutung der Sammlung überzeugt ist, kommt für ihn eine Rettung nur über die Gründung eines Husserl-Archivs in Frage. Doch wie und wo 10.000 Manuskriptseiten, Brief- und Tagebuchaufzeichnungen, 40.000 in Gabelsberger Kurzschrift stenographierte Seiten Vorlesungstexte, Aufzeichnungen und Buchmanuskripte in Sicherheit hinbringen?
Die Witwe ist überwältigt und misstrauisch zugleich von Bredas Engagement und dem Vorschlag, die Texte nach Leuven zu bringen. Soll sie dem erst 27-jährigen Van Breda vertrauen? Wie sollen die Manuskripte transportiert, wie sortiert und archiviert werden? Wer soll diese Aufgabe betreuen? Die Witwe hat mehr Fragen als Antworten. In der Folge wechseln Koffer die Besitzer und Städte, werden sie über die Grenze geschmuggelt und gehen beinahe verloren. Stempel sind unter fadenscheinigen Gründen einzuholen, Minister und Diplomaten einzuschalten. Zuweilen läuft Van Breda Gefahr, mit seinen Dutzenden Koffern für einen Spion gehalten zu werden und aufzufliegen. Weil die Texte zudem in „Geheimschrift“ verfasst sind, die er gar nicht lesen kann, können ihn die Texte das Leben kosten. Aber zum Glück verläuft die Fahrt nach Berlin ohne Zwischenfälle und er kommt heil im Franziskanerkloster in Berlin Pankow an.
Doch dort können die Manuskripte nicht bleiben. Sie müssen weiter nach Leuven. Doch es ist ein schlechter Zeitpunkt, als die von Edith Stein, Eugen Fink und Ludwig Landgrebe erstellten Transkripte in Belgien eintreffen, denn am gleichen Tag wird die Teilmobilmachung verkündet. Ein riesiges Chaos entsteht. Pater Van Breda bringt die Transkripte in seiner Zelle im Kloster in der Vlamingenstraat unter. Letzte Koffer treffen erst 1939 ein. Und auch die Husserl-Witwe muss aus Deutschland herausgeholt und in Belgien untergebracht werden, bevor sie nach Amerika auswandern kann.
Das Husserl-Archiv
Mit der Rettung der Texte ist es aber noch lange nicht getan. Schließlich sollen sie nicht nur archiviert, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Zeit dafür ist denkbar ungünstig. Leuven wird bombardiert. Es ist schwierig, die Transkripte zu schützen und zu verstecken. Van Breda versucht, Edith Stein, eine ausgesprochene Husserl-Kennerin, aus dem Karmeliterinnenkloster in Echt nach Leuven zu holen, um die Texte weiter transkribieren zu lassen. Doch die legt ihr Schicksal inzwischen in Gottes Hände und verlässt nicht das Kloster. Auch um ihren Nachlass macht sich Van Breda Sorgen, weil er dabei noch Texte von Husserl vermutet.
Auch nach dem Krieg gibt es immer wieder Schwierigkeiten, an Geld und Personal zu kommen, das Archiv weiter aufzubauen. Aber es ist die Obsession des Franziskaners, das Husserl-Archiv zu betreiben und zugänglich zu machen. Er stellt bei Stiftungen Unterstützungsanträge, von der Rockefeller Foundation bis zur UNESCO. Und tatsächlich: Ab 1950 unterstützt die UNESCO das Husserl-Archiv. Ab 1960 bekommt er auch Geld aus dem belgischen Fonds für Wissenschaftliche Forschung. Nach zwölf Jahren haben die Geldnöte ein Ende und die ersten Texteditionen der Husserl-Manuskripte sind im Druck.
Wer war van Breda?
Herman Leo Van Breda war ein begnadeter Netzwerker und ein chaotischer Archivar. Er machte aus der kleinen belgischen Stadt Leuven einen Fixpunkt der europäischen Philosophie und sorgte dafür, dass philosophische Größen wie Heidegger, Merleau-Ponty, Derrida oder Levinas ins Husserl-Archiv kamen. Er vermochte es, über politischen Ansichten zu stehen und blieb mit Heidegger ebenso in Verbindung wie mit Merleau-Ponty, obwohl sich der eine vorübergehend als Nazi und der andere als Stalinist entpuppte. Mit Husserls und Heideggers Denken konnte Van Breda denkerisch noch mithalten, promovierte 1941 auch. Doch das Denken der neuen Generation Husserl-Anhänger wie Derrida und Lyotard überfordert ihn. Schließlich stirbt Van Breda an Diabetes, auf die er zeitlebens kaum Rücksicht genommen hat.
Breda war kein konservativer Kleriker. Schon ab den 50er Jahren lässt er den Habit öfter im Schrank hängen und entscheidet sich für den weltlichen Anzug, was ihn nicht nur Wohlwollen unter seinen klösterlichen Brüdern einbrachte. Im eigenen Kloster an der Vlamingenstraat gilt Van Breda als Außenseiter. Man sieht zwar zu ihm auf, aber man ist auch neidisch auf sein lockeres und weltliches Auftreten. Was er für den Husserl-Nachlass und die Philosophie getan hat, die vielen Gespräche, die er mit Intellektuellen geführt hat, sein eigenes philosophisches Interesse und die Akquise von Geldern zeigen, dass er mit den Füßen fest auf dem Boden der Realität stand und doch sein Leben in den Dienst des Fortlebens eines anderen stellte.
Toon Horsten hat es vermocht, die Geschichte der Rettung des Husserl-Vermächtnisses wie einen Roman zu schreiben: packend, gelehrt und sprachlich brillant. Schon dafür gebührt ihm großer Dank. Auch die Übersetzung ins Deutsche, die Marlene Müller-Haas aus dem Niederländischen bewerkstelligte, büßt nichts an Genauigkeit und Tempo des drehbuchreifen Philosophie-Krimis ein. Toon Horsten hat mit seinem Buch eine Alltagsheldengeschichte dem Vergessen entrissen. Wie Van Breda tat er, was getan werden muss. Und er tat es couragiert, gründlich und mit Leidenschaft. Das inspiriert, die Schriften Husserls noch einmal genauer zu erkunden und dafür das Husserl-Archiv in Leuven aufzusuchen.
Toon Horsten: Der Pater und der Philosoph. Die abenteuerliche Rettung von Husserls Vermächtnis
Galiani Berlin 2021
360 Seiten
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