Die Pflicht zur Moral

Peter Singers Aufsatz „Famine, Affluence, and Morality“ von 1971 ist noch aktuell

Der australische Philosoph und Ethiker Peter Singer
(Foto: Alletta Vaandering/www.petersinger.info).

Peter Singer hat einen Aufsatz unter dem Titel Famine, Affluence, and Morality in der Zeitschrift „Philosophy and Public Affairs“ 1(3), S. 229-243, veröffentlicht. Das war vor fast 50 Jahren. Da war Singer noch frisch gebackener Oxford-Absolvent. Vor einigen Jahren erschien der Aufsatz noch einmal in Buchform und um einige Texte erweitert. Ein Jahr später ist nun die deutsche Ausgabe dieses Büchleins herausgekommen. Es trägt den Titel Hunger, Wohlstand und Moral und wurde um ein Vorwort von Bill und Melinda Gates bereichert.

Alter schützt nicht vor Aktualität

Der Aufsatz entstand auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise der 70er-Jahre. Die war eine Folge der Repression durch die Militärregierung im damaligen Ostpakistan, lässt uns Singer in seiner Einleitung wissen. Neun Millionen Menschen flohen nach Indien über die Grenze. Diese Krise nutzt Singer als Aufhänger für sein Argument, dass die Menschen in den Wohlstandsgesellschaften viel mehr tun sollten, um bedürftigen Menschen in viel ärmeren Ländern zu helfen.

In der Folgezeit avancierte der Aufsatz zu einem breit diskutierten Thema in Ethik-Vorlesungen nicht nur in Oxford, wo Singer seine erste Dozentenstelle antrat. Es gab Für und Wider zu seiner These. Doch Singer wollte mehr: Er wollte, dass man sich nicht nur intellektuell mit dem Text auseinandersetzte, sondern dass er substanzielle Wirkung im Handeln zeigte. Nicht von ungefähr kommt es, dass Singer seine Bewegung Effektiver Altruismus nennt, und Leute vereint, die ihr Leben nach der Lektüre des Buches verändert haben. Er beansprucht daher auch keine moralische Neutralität.

Schlechtes verhindern, ohne Gleichwertiges zu opfern

Der entscheidende Satz, um den sich alles dreht, ist folgende These: „Wenn es in unserer Macht steht, etwas Schlechtes zu verhindern, ohne dabei etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern, so sollten wir dies, moralisch gesehen, tun.“ Dabei geht Singer von der Annahme aus, dass Leiden und Tod aufgrund von Nahrungsmittelmangel, Obdachlosigkeit und medizinischer Unterversorgung etwas Schlechtes sind.

Wenn Singer nun unter einem vergleichbar moralischen Opfer dasjenige meint, „dass wir nichts vergleichbar Schlechtes oder Schlechteres verursachen oder tun soll oder etwas zu unterlassen, das etwas Gutes befördert, das von vergleichbarer Bedeutung ist wie das Schlechte, das wir verhindert können“. Im Grunde verlangt er nur, unter bestimmten Umständen Schlechtes zu verhindern. Es verlangt nicht, Gutes zu befördern.

Nähe und Distanz als Entscheidungskriterium

Gegen den Einwand, dass es doch moralisch relevant sei, ob zu den Personen, den geholfen werden soll, ein Nähe-Verhältnis besteht, wendet Singer ein, dass Nähe und Distanz keine Rolle spielen sollten. Für ihn erhöht Bekanntschaft und persönlicher Kontakt zwar die Wahrscheinlichkeit, dass geholfen wird, aber sagt noch nichts darüber aus, ob geholfen werden sollte. Denn Singer meint: „Wenn wir irgendein Prinzip der Unparteilichkeit, Universalisierung und Gleichheit akzeptieren, dann können Menschen nicht benachteiligt werden, nur weil sie sich weit weg von uns befinden.“ Daher gibt es für ihn keine Rechtfertigung, Personen aus geographischen Gründen zu diskriminieren. Für Singer macht es keinen Unterschied, ob es mein Kind, das Nachbarskind oder ein fremdes Flüchtlingskind ist, das in den Teich gefallen ist – in jedem Fall habe ich die Verpflichtung zu helfen, selbst wenn ich mir meine teuren Sachen ruiniere, jedoch dann nicht, wenn ein anderes Kind dafür in Gefahr bringe, selbst getötet zu werden.

Kategorienfehler

Singers Argument hat zur Folge, dass die traditionellen moralischen Kategorien durcheinandergeraten, etwa die Unterscheidung zwischen Wohltätigkeit und Pflicht. Er hält es nicht für einen Akt der Wohltätigkeit – wie es oft von amerikanischen Wohltätigkeitsstiftungen dargestellt wird –, eine andere Person vor dem Hungertod zu retten, sondern für eine Pflicht. Denn es ist kein Akt der Freiwilligkeit, dies zu tun, sondern einer Einsicht, die handlungsaktiv wird. Solche Einsichten nennt man Überzeugungen.

Warum spendet der Mittelstands-Amerikaner, -Europäer oder -Asiat sein übriges Geld nicht an Organisationen, die Kinder vor dem Hungertod rettet? Warum sind die Etats der Entwicklungshilfe nach wie vor geringer als die Militärausgaben? Warum hält das reiche Mitteleuropa die Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen und sich damit vom Leibe? Warum tritt Amerika aus der WHO aus? Warum gibt es Handelsbarrieren Europas und der USA gegen die Agrarimporte aus Entwicklungsländern? Warum machen die reichen Ländern Geschäfte mit Diktatoren und Rebellen, die ihre Landsleute unterdrücken und die Bodenschätze ausverkaufen? Und wie viel sollte ein Milliardär überhaupt spenden?

Resümee

Peter Singer rechnet in seinem 2. Teil des Buches vor, wie es gehen könnte. Unter anderem deswegen attestieren ihm Bill und Melinda Gates als Co-Vorsitzende der gleichnamigen Stiftung „als seiner Zeit voraus“. Nun sollte es daran gehen, die moralischen Pflichten justiziabel zu machen. Denn allein Appelle – so lehrt die Erfahrung – helfen weder in der Welthungerhilfe noch generell in der Entwicklungs- oder Klimapolitik. Das Leid ist global und zu groß, um auf die Einsicht und Zustimmung finanzkräftiger Akteure zu warten.

Peter Singer: Hunger, Wohlstand und Moral

Hoffmann und Campe

Hamburg 2017

211 Seiten

www.leipzig-almanach.de

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