Die Schuhe von Jürgen Habermas

Büchersonntag, Folge 6: „Mode und andere Neurosen“ von Katja Eichinger ist ein kluges Buch über ein vermeintlich unwichtiges Thema.

Wer über Mode schreibt, macht sich verdächtig. So wie das, was gerade angesagt ist, sich schneller zu ändern scheint als das Wetter, also der Inbegriff an Flatterhaftigkeit ist, neigt man auch dazu, diejenigen, die darüber schreiben, nicht ernst zu nehmen. Oder wissen Sie, worum es geht, wenn eine „Brigitte.de“-Redakteurin in ihrem Beitrag vom 22. Mai fröhlich verkündet, ab sofort nur noch „Chunky Hoops“ tragen zu wollen? Genau: keine Ahnung, aber völlig egal. Es geht ja nur um Mode.

Oder steckt mehr dahinter? Auch Katja Eichinger könnte sich einreihen in die Riege derer, die Trends in „Hurra“-Manier anpreisen ohne sie zu hinterfragen. Gleich zu Beginn ihres Buchs Mode und andere Neurosen beschreibt sie eine Szene aus ihrer Kindheit, die vielleicht dazu beigetragen haben könnte, dass sie später bei der britischen „Vogue“ und nicht bei „Brigitte.de“ landete: Während die Großmutter mit den Füßen eine alte Singer-Nähmaschine zum Schnurren bringt, sitzt die kleine Katja unter dem Nähtisch und beobachtet fasziniert, wie der Stoff immer weiter nach oben zur Maschine wandert. „Mode war für mich damals etwas, was man selbst herstellt und selbst bestimmt. Erst sehr viel später verstand ich, dass eine globale Industrie dahintersteht“, schreibt sie Jahrzehnte später.

Dass man Mode selbst bestimmen, sie also zum Akt der Selbstermächtigung werden kann, dass man mit Mode immer auch etwas nach außen kommuniziert und man sich mit ihr im schlimmsten Fall der Lächerlichkeit preisgibt, dass Mode im besten Fall politisch ist: davon handeln Katja Eichingers zehn Essays, die den Spagat schaffen, sowohl zu unterhalten als auch lange im Kopf nachzuhallen.

Gemeinsam ist allen Texten, dass persönliche Erinnerungen oder Alltagsbeobachtungen zum Ausgangspunkt des Nachdenkens über Mode werden. Im Essay „Streetwear oder die Freiheit, die wir meinen“ führt ein Biergartenbesuch am Starnberger See zu dieser verblüffenden Erkenntnis: Selbst die Frankfurter Schule kann nicht ohne Nike. Hätte Jürgen Habermas gewusst, dass am Nebentisch eine Modejournalistin sitzt, die erst verblüfft seine Schuhe registriert (schwarze Nikes mit weißer Sohle, Modell „Free Ultra“!) und dann genüsslich analysiert (Habermas bedankte sich 2004 für den Kyoto-Friedenspreis mit einer Rede zum Thema „Freiheit und Determinismus“ – was für eine Ironie!), er hätte vielleicht lieber ein Paar harmlose Lederhalbschuhe angezogen.

Zu gern hätte man eine Abbildung von besagten Turnschuhen im Buch gesehen. Wer weiß schon, wie „Free Ultras“ von Nike aussehen? Oder die Kelly Bag von Hermès (angeblich eine kleinere Ausgabe der Birkin Bag) und die Fleeceweste von Patagonia? Katja Eichinger wirft mit Namen von zu Ikonen gewordenen Modeartikeln nur so um sich. Wer dabei nicht sofort ein Bild im Kopf hat, der kann sich schnell verloren fühlen. Oder muss nach jedem zweiten Satz die Google-Bildersuche bemühen. Doch auch wenn Christian Werners Fotografien die Gedanken der Autorin zu selten illustrieren: Sie treffen, weil sie wie die Texte hinter die Fassade des Glamours blicken. Ein Regal voller Chanel-Handtaschen wird bei Werner zur traurigen braun-schwarzen Anhäufung von Leder – einfach, weil das Schaufensterlicht fehlt.

Wer sich schon immer gefragt hat, warum wir uns ständig selbst fotografieren, wieso der Bart-Trend bei Männer einfach nicht tot zu kriegen ist und weshalb ein Tattoo „eine Barrikade gegen den täglichen Terror der Möglichkeiten“ ist: Katja Eichinger liefert darauf viele kluge Antworten.

Katja Eichinger: Mode und andere Neurosen

Blumenbar 2020

208 Seiten

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