Welche heimliche Autorin versteckt Bettina Wilpert?

Kein Roman, eher eine Stoffsammlung auf drei Zeitebenen – und trotzdem empfehlenswert: „Herumtreiberinnen“

Bettina Wilpert wurde im Wendejahr 1989 geboren, wuchs in Bayern auf, studierte Kulturwissenschaft, Anglistik und Literarisches Schreiben in Potsdam, Berlin und Leipzig. 2018 debütierte sie mit dem Roman Nichts, was uns passiert, erhielt den ZDF-“aspekte“-Literaturpreis, den Förderpreis zum Lessingpreis und wurde ausgezeichnet mit dem Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium, zugesprochen wurde ihr ein Stipendium der Villa Aurora Los Angeles. Die Kameras der Medien, die Juroren und grauen Eminenzen des Kulturbetriebes sind ihr zugeneigt. So erklärt sich vieles, die Autorin ist fokussiert, spürt die Erwartungshaltung und arbeitet zu schnell. In der Eile ramscht sie zusammen, was nicht immer glücklich miteinander korrespondiert.

Das Buch hat wirklich jenen nach Novalis viel zitierten Anfang, dem ein Zauber inne wohnt. Manja und Maxie sind Schülerinnen der 11. Klasse und suchende, aufgeschlossene und liebenswerte Mädchen. Sie interessieren sich für Erika und Klaus Mann, Weltraumtechnik, tendieren zu Antifaschismus und Punk. Der Text atmet selbst Anfang, den des bewussten geistigen Erlebens, der Loslösung von Staat und Elternhaus und zarten körperliches Erwachens.

Die Handlung ist sehr nahe am Zeitgeschehen im Jahr 1983, nicht nur von den Fakten, sondern auch von der damaligen üblichen Syntax wirkt sie authentisch. Wir lesen lange Sätze, wie sie im Deutschunterricht gelehrt worden sind. Sie lassen an Satzgliedanalysen denken, bei denen außer einem Hauptsatz viele Nebensätze mäanderten, diese wurden auch senkrecht in Tabellen geschrieben, gern auch an der Tafel.

Früh endendes Wohlfühlbad

Die Geschichte von Manja und Maxie ist die einzig lesenswerte am sonst nicht lesenswerten und über weite Teile nicht von der Schriftstellerin Bettina Wilpert verfassten Roman. Rein spekulativ könnte die Handlung, etwa bei einer Tante oder Mutter, als Erlebnis zu vermuten sein. Das Wohlfühlbad der Lektüre endet hier auf Seite 60. Bettina Wilpert hat eher eine Stoffsammlung vorgelegt, die drei Handlungsstränge versorgen soll. Außer Maxie und Manja, deren Schöpferin unterschlagen wird, lesen wir von Lilo, deren Handlungsstrang sich aus den Lebenserinnerungen der Elfriede Geisenheiner generiert. Menschliches Überleben und Empfinden im Faschismus bezeugen dieses zeitgeschichtliche Dokument.

Die Wahl ist auf Lilo, zweitens auf die talentierte Mädels und zum Schluss auf die Flüchtlinge und den jungen Saad gefallen, weil sie alle zu verschiedenen Zeiten in Leipzig im gleichen Haus, der Engelsburg, untergebracht worden sind. Dieses Haus ist nacheinander Lager für zivile Zwangsarbeiter in Hitlers Reich, Tripperburg in der DDR oder Heim für Geflüchtete in der BRD. Jeder, der schon mal angeeckt ist, kennt diese Art von Mauern, die anscheinend jeder Staat braucht und die immer nach Desinfektionsmittel, Behörde und Kommandos riechen.

Der dritte Erzählstrang ist dann von der Autorin selbst geprägt, es ist ihre Zeit und sind ihre wirklichen Bekannten; aktuelles Fluidum der Großstadt mit veganer Ernährung und Online-Dates, WG-Küchengesprächen, konsumierten TV-Erlebnissen oder kaltgepresstem Orangensaft. Jetzt, wo sie eigenes Erleben reflektiert und erzählt, wird es allerdings etwas beliebig. Dennoch, es lohnt sich weiter zu lesen: Manja und Maxie kommen wieder! Sie haben viel erlebt und gelitten, aber sie entkommen Zersetzung und Verfolgung, besuchen Punkkonzerte und peppen ihr Outfit auf. Irgendwer hat für diese letzten Seiten auch die Syntax nachbearbeitet, die Praxis der Schachtelsätze wurde gemieden.

Stolpersteine für Textverständnis

Fußnoten oder ein Glossarium hätten das Textverständnis verbessert. Wie eine Widmung ist ein Text von Manja und Maxie vorangestellt: „Sie nennen uns HwGS oder Herumtreiberinnen“, heißt es da. Wer kann schon wissen, dass das in der mit Abbreviaturen stets proppevollen DDR nicht anderes als „häufig wechselnde Geschlechtspartner“ hieß und meistens auch im SV-Buch, dem für den Arztbesuch benötigten Sozialversicherungsausweis, eingestempelt wurde?

Trotz allen Widrigkeiten, lassen Sie sich angespannt unterhalten und nehmen Sie Anteil am Leben von Manja und Maxie: Gepriesen sei die unbekannte Verfasserin! Von Frau Wilpert stammt dieser Text nicht, Personen aus literarischer Fantasie zu imaginieren scheint sie nicht fähig, sonst hätte sie es wohl einmal versucht. Die übrigen Teile könnten nur mit einem gewissen Unwohlsein und Magengrummeln lesbar sein! Nicht ohne solch ein Grummeln möchte ich schreiben: Lassen Sie sich Maxie und Manja nicht entgehen! Ich empfehle dieses Buch!

Bettina Wilpert: Herumtreiberinnen

Verbrecher Verlag 2022

265 Seiten

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